Blutmale
ich mich frage, ob sie vielleicht mehr ist, als sie scheint. Ob ich sie unterschätzt habe.
»Die mächtigsten Zaubersprüche«, erkläre ich ihr, »kön nen die Toten zum Leben erwecken.«
»Du meinst, so wie in Die Mumie ?« Sie lacht.
Auch hinter meinem Rücken höre ich jemanden kichern, und als ich mich umdrehe, sehe ich ihre beiden Freundinnen in der offenen Tür stehen. Sie haben gelauscht, und sie mus tern mich abschätzig. Ich bin sicher der seltsamste Junge, den sie je kennengelernt haben. Sie haben ja keine Ahnung, wie anders ich tatsächlich bin.
Lily schlägt das Totenbuch zu. »Gehen wir schwimmen, Mädels«, sagt sie und verlässt das Zimmer. Der süßliche Duft ihrer Sonnencreme bleibt zurück.
Durch mein Fenster beobachte ich, wie sie den Weg zum See hinuntergehen. Das Haus ist jetzt still.
Ich gehe in Lilys Zimmer. Aus ihrer Haarbürste ziehe ich zwei lange braune Haare und stecke sie in die Hosentasche. Ich schraube die Lotionen und Cremes auf ihrer Kommode auf und rieche daran, und mit jedem Duft blitzt eine Erinne rung in mir auf: Lily am Frühstückstisch. Lily neben mir im Auto. Ich öffne ihre Schubladen, ihren Schrank, ich fasse ihre Kleider an. Kleider, wie sie jeder amerikanische Teen ager tragen könnte. Sie ist doch nur ein gewöhnliches Mäd chen, nichts weiter. Aber ich muss sie beobachten.
Darin bin ich besonders gut.
8
Siena, August.
Lily Saul schreckte jäh aus einem tiefen Schlaf hoch und blieb schwer atmend inmitten der zerwühlten Laken liegen. Das bernsteinfarbene Licht des Spätnachmittags schimmerte durch den Spalt zwischen den nicht ganz geschlossenen Fensterläden. Im Halbdunkel über ihrem Bett kreiste summend eine Fliege, angelockt vom Geruch ihrer schweißbedeckten Haut. Ihrer Angst. Sie setzte sich auf der dünnen Matratze auf, strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht und massierte ihre Schläfen, während ihr Puls sich langsam wieder beruhigte. Der Schweiß rann ihr von den Achseln und tränkte ihr T-Shirt. Es war ihr gelungen, die Stunden der größten Mittagshitze zu verschlafen, aber auch jetzt noch war es unangenehm stickig im Zimmer, die Luft so dick, dass sie glaubte zu ersticken. Ich kann nicht ewig so weitermachen, dachte sie, sonst werde ich noch verrückt.
Vielleicht bin ich ja schon verrückt.
Sie stand auf und trat ans Fenster. Sogar die Keramikfliesen unter ihren Füßen strahlten Hitze aus. Sie klappte die Lä den auf und blickte auf die winzige Piazza hinunter, auf die Häuser, die wie Steinöfen in der Sonne glühten. Ein goldener Dunst überzog Dächer und Kuppeln mit einer schimmernden Patina. In dieser Sommerhitze blieben die Einwohner Sienas klugerweise in ihren Häusern; nur Touristen waren um diese Tageszeit auf den Beinen, streiften mit großen Augen durch die engen Gassen, erklommen keuchend und schwitzend den Weg hinauf zur Basilika oder posierten für Erinnerungsfotos auf der Piazza del Campo, wo ihre Schuhsohlen fast schmolzen und auf dem kochend heißen Ziegelsteinpflaster festklebten - das ganze obligatorische Touristenprogramm, das sie selbst absolviert hatte, als sie nach Siena gekommen war. Bevor sie sich dem Lebensrhythmus der Einheimischen angepasst hatte, bevor die Augusthitze sich auf diese mittelalterliche Stadt gelegt hatte.
Auf der Piazzetta unter ihrem Fenster war keine Menschenseele zu sehen. Doch als sie sich abwandte, registrierte sie plötzlich in einem Hauseingang eine zuckende Bewegung. Sie verharrte reglos, den Blick starr auf die Stelle gerichtet. Ich kann ihn nicht sehen. Kann er mich sehen? Und dann kam das Wesen, das sich vor der Hitze in diesen Hauseingang verkrochen hatte, aus seinem Versteck hervor, trabte über die Piazza und verschwand.
Nur ein Hund.
Lachend wandte sie sich vom Fenster ab. Nicht in jeder dunklen Ecke lauerte ein Monster. Aber in manchen. Man che Schatten verfolgen dich, bedrohen dich, wohin du auch gehst.
In dem winzigen Bad spritzte sie sich lauwarmes Wasser ins Gesicht und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz. Mit Schminken hielt sie sich gar nicht erst auf; im Lauf des vergangenen Jahres hatte sie sämtliche Gewohnheiten, die sie auf hielten und langsamer machten, abgelegt. Sie lebte aus einem kleinen Koffer und einem Rucksack und besaß nur zwei Paar Schuhe, ihre Sandalen und ein Paar Turnschuhe. Mit Jeans, T-Shirts und Pullovern überstand sie die Hitze des Sommers ebenso wie den winterlichen Schneeregen. Letzten Endes kam es bei der Kunst des Überlebens doch nur darauf an,
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