Blutmale
»Lange nicht gesehen, Dr. Isles«, sagte sie. »Wie geht es Ihrer Mutter?«
Sie attackiert immer direkt den empfindlichsten Punkt. Lass sie nicht sehen, dass sie einen Treffer gelandet hat.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Maura.
»Haben Sie sie nicht wieder mal besucht?«
»Nein. Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon.«
»Oh, ich habe meine Gespräche mit Amalthea vor über einem Monat abgeschlossen. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.« Langsam streifte O'Donnell ein Paar Wollhandschuhe über ihre langen, schmalen Finger. »Es ging ihr gut, als ich sie zuletzt sah, falls es Sie interessiert.«
»Das tut es nicht.«
»Sie lassen sie jetzt in der Gefängnisbücherei arbeiten. Sie hat sich zu einem richtigen Bücherwurm gemausert. Liest jedes Psychologiebuch, das sie in die Finger kriegen kann.« O'Donnell hielt inne, um noch ein letztes Mal an ihrem Hand schuh zu zupfen. »Wenn sie je die Chance gehabt hätte, ein College zu besuchen, hätte sie ein Star werden können.«
Aber meine Mutter hat sich für eine andere Karriere ent schieden. Als blutrünstige Bestie. Als Schlächterin. Sosehr Maura sich auch mühte, Abstand zu gewinnen, sosehr sie versuchte, jeden Gedanken an Amalthea zu verdrängen, sie konnte doch nie in den Spiegel schauen, ohne die Augen ihrer Mutter darin zu sehen, die Kieferpartie ihrer Mutter. Ein Ungeheuer, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte.
»Die Fallgeschichte Ihrer Mutter wird ein ganzes Kapitel in meinem nächsten Buch einnehmen«, sagte O'Donnell. »Wenn Sie sich je bereitfinden könnten, mit mir darüber zu sprechen, würden Sie damit einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Geschichte leisten.«
»Ich habe nichts dazu zu sagen. Absolut gar nichts.«
O'Donnell lächelte nur; offensichtlich hatte sie mit dieser Zurückweisung gerechnet. »Fragen kostet ja nichts«, sagte sie und sah Sansone an. Ein eindringlicher Blick - als hätte sie ihm noch etwas zu sagen, könnte es aber nicht in Mauras Gegenwart tun. »Gute Nacht, Anthony.«
»Soll Jeremy dich nicht lieber mit dem Wagen begleiten? Nur zur Sicherheit?«
»Nicht nötig, danke.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das auf Maura ausgesprochen kokett wirkte. »Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«
»Aber die Umstände haben sich geändert, Joyce.«
»Hast du Angst?«
»Wir wären verrückt, wenn wir keine Angst hätten.«
Sie warf sich den Schal um den Hals, eine theatralische Geste, die demonstrieren sollte, dass sie sich jedenfalls nicht von so etwas Banalem wie Angst würde aufhalten lassen. »Ich ruf dich morgen an.«
Er öffnete die Tür. Ein Schwall eisiger Luft wehte herein, und mit ihm eine Wolke von Schneeflocken, die sich wie Flitter auf den Teppich legten. »Pass gut auf dich auf«, sagte er. Er blieb in der Tür stehen und sah O'Donnell nach, als sie zu ihrem Wagen ging. Erst nachdem sie davongefahren war, schloss er die Tür und wandte sich wieder Maura zu.
»Sie und Ihre Freunde glauben also, auf der Seite der Engel zu stehen«, sagte Maura.
»Das tun wir, da bin ich sicher.«
»Auf welcher Seite steht sie ?«
»Ich weiß, dass das Verhältnis zwischen Joyce und den Vertretern der Strafverfolgungsbehörden nicht gerade herzlich ist. Als Zeugin der Verteidigung ist es ihr Job, anderer Meinung zu sein als die Staatsanwaltschaft. Aber ich kenne sie jetzt seit drei Jahren. Ich weiß, auf welcher Seite sie steht.«
»Können Sie sich da wirklich sicher sein?« Maura griff nach ihrem Mantel, den sie über ein Sofa geworfen hatte. Er machte keine Anstalten, ihr hineinzuhelfen; vielleicht spürte er, dass sie im Gegensatz zu O'Donnell nicht in der Stimmung war, sich verwöhnen zu lassen. Als sie den Mantel zuknöpfte, hatte sie das Gefühl, von zwei Augenpaaren beobachtet zu werden. Auch das Bildnis des Antonino Sansone verfolgte sie mit seinem Blick, der durch den Nebel von vier Jahrhunderten drang. Unwillkürlich musste sie zu dem Porträt dieses Mannes aufblicken, dessen Taten, begangen vor so vielen Generationen, seinem Nachfahren und Namensvetter noch immer einen Schauer einjagen konnten.
»Sie sagen, Sie haben dem Bösen ins Auge geblickt«, bemerkte sie, indem sie sich wieder ihrem Gastgeber zuwandte.
»Das haben wir beide.«
»Dann sollten Sie allmählich wissen«, entgegnete sie, »dass es sich verdammt gut tarnen kann.«
Sie verließ das Haus und atmete die Luft ein, die von gefrorenem Nebel funkelte. Der Gehweg erstreckte sich vor ihr wie ein dunkler Fluss; die Straßenlaternen warfen
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