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Blutmale

Blutmale

Titel: Blutmale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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bleiche Lichtinseln auf den Asphalt. Ein einsamer Streifenwagen des Boston PD stand mit laufendem Motor auf der anderen Straßenseite, und sie konnte die Silhouette eines Polizisten auf dem Fahrersitz ausmachen. Sie hob die Hand und winkte.
    Er winkte zurück.
    Kein Grund, nervös zu werden , dachte sie, als sie sich in Bewegung setzte. Mein Wagen steht gleich da drüben, und es ist ein Polizist in der Nähe. Und Sansone war auch noch da. Sie warf einen Blick zurück und sah, dass er immer noch auf den Stufen vor seinem Haus stand und sie beobachtete. Dennoch zog sie ihre Autoschlüssel aus der Tasche und legte den Daumen über den Panikknopf . Während sie auf ihren Wagen zuging, suchte sie die dunkle Straße ab, hielt Ausschau nach dem geringsten Anzeichen einer Bewegung. Erst als sie eingestiegen war und die Türen verriegelt hatte, spürte sie, wie die Anspannung aus ihren Schultern wich.
    Zeit, nach Hause zu fahren. Zeit für einen kräftigen Drink.
    Als sie zu Hause ankam, fand sie zwei neue Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter. Sie steuerte zuerst die Küche an, um sich ein Glas Brandy einzuschenken, und nippte daran, während sie ins Wohnzimmer zurückging und die Play-Taste drückte. Als sie die Stimme des ersten Anrufers erkannte, verharrte sie vollkommen reglos.
    »Hier spricht Daniel. Rufen Sie mich bitte an, ganz gleich, wie spät es ist, wenn Sie diese Nachricht hören. Der Gedanke ist mir einfach unerträglich, dass Sie und ich …« Eine Pause. »Wir müssen reden, Maura. Rufen Sie mich an.«
    Sie rührte sich immer noch nicht von der Stelle, stand nur da und hielt ihr Glas, bis ihre Finger taub wurden, während die zweite Nachricht abgespielt wurde.
    »Dr. Isles, hier ist Anthony Sansone. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie sicher nach Hause gekommen sind. Rufen Sie mich doch bitte kurz zurück, ja?«
    Der Apparat verstummte. Sie atmete durch, griff nach dem Hörer und wählte.
    »Hier bei Sansone, Jeremy am Apparat.«
    »Hier spricht Dr. Isles. Könnten Sie …«
    »Hallo, Dr. Isles. Warten Sie, ich hole ihn ans Telefon.«
    »Sagen Sie ihm bitte nur, dass ich zu Hause bin.«
    »Ich weiß, dass er sehr gerne selbst mit Ihnen sprechen würde.«
    »Es ist wirklich nicht nötig, dass Sie ihn stören. Gute Nacht.«
    »Gute Nacht, Dr. Isles.«
    Sie legte auf und behielt den Hörer in der Hand, im Begriff, die zweite Nummer zu wählen.
    Ein lautes Krachen auf ihrer Veranda ließ sie auffahren. Sie ging zur Haustür und schaltete die Außenbeleuchtung ein. Draußen wirbelte der Wind den pulvrigen Schnee auf. Auf der Veranda lag ein herabgefallener Eiszapfen, zersprungen in glitzernde Splitter, wie ein zerbrochener Dolch. Sie schaltete das Licht wieder aus, blieb aber am Fenster stehen und sah zu, wie ein Streufahrzeug der Stadt vorüberrumpelte und Sand über die vereiste Straße verteilte.
    Sie ging zurück zur Couch und starrte das Telefon an, während sie den letzten Schluck Brandy trank.
    Wir müssen reden, Maura. Rufen Sie mich an.
    Sie stellte das Glas ab, schaltete die Lampe aus und ging zu Bett.

13
    22. Juli. Mondphase: erstes Viertel.
    Tante Amy steht am Herd und rührt in ihrem Eintopf, ihre Miene zufrieden wie die einer Kuh. Es ist ein trüber Tag, im Westen ballen sich dunkle Wolken zusammen, doch sie scheint das Grollen des Donners nicht zu hören. In der Welt meiner Tante ist jeder Tag ein Sonnentag. Sie sieht nichts Böses, fürchtet nichts Böses. Sie ist wie das Vieh, das drü ben auf der Farm mit Klee gemästet wird und nichts vom Schlachthof weiß. Sie ist geblendet vom Glanz ihres eigenen kleinen Glücks, und deshalb sieht sie den Abgrund vor ihren Füßen nicht.
    Sie ist ganz anders als meine Mutter.
    Tante Amy wendet sich vom Herd ab und sagt: »Das Essen ist fast fertig.«
    »Ich decke schon mal den Tisch«, sage ich, und sie schenkt mir ein dankbares Lächeln. Während ich die Teller und Ser vietten auf dem Tisch verteile und die Gabeln nach franzö sischer Art mit den Zinken nach unten lege, spüre ich ihren liebenden Blick. Sie sieht nur einen ruhigen, netten Jungen; sie ist blind für meinen wahren Charakter.
    Nur meine Mutter weiß Bescheid. Meine Mutter kann un seren Stammbaum bis zu den Hyksos zurückverfolgen, die Ägypten vom Norden aus regierten, in einer Epoche, als der Gott des Krieges in Ehren gehalten wurde. »Das Blut der al ten Jäger fließt in deinen Adern«, hat meine Mutter gesagt. »Aber es ist besser, wenn du nie darüber sprichst, denn die Menschen

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