Blutmale
wobei sie ihren Schritt sei nem quälend langsamen Schlurfen anpassen musste. War es möglich, dass dieser Greis noch Vorlesungen hielt? Er schien ja schon zu alt und gebrechlich, um auch nur die Treppe zu bewältigen. Aber von Schiller war der Name, den man ihr genannt hatte, als sie im Institut für Vergleichende Zoologie angerufen hatte, und das aufgeregte Funkeln in seinen Augen beim Anblick dessen, was sie in ihrer Manteltasche mitgebracht hatte, war nicht zu übersehen gewesen. Er konnte es offenbar nicht erwarten, das Ding in die Finger zu bekommen.
»Verstehen Sie etwas von Muscheln, Detective?«, fragte von Schiller, während er langsam die Stufen erklomm und sich mit einer knotigen Hand an dem geschnitzten Handlauf festhielt.
»Ich habe im Restaurant schon mal welche gegessen, das ist alles.«
»Soll das heißen, Sie haben nie Muscheln gesammelt?« Er blickte sich um. »Wussten Sie, dass Robert Louis Steven-son einmal gesagt hat: ›Es ist vielleicht ein glücklicheres Geschick, Gefallen am Muschelsammeln zu finden, als ein Millionenerbe in die Wiege gelegt zu bekommen‹?«
»Hat er das tatsächlich gesagt?« Ich glaube, da würde ich lieber die Millionen erben.
»Es ist meine Leidenschaft, seit ich ein kleiner Junge war. Meine Eltern sind mit uns jedes Jahr an die Amalfiküste gefahren. Mein Zimmer war so vollgestopft mit Muscheln, dass man sich kaum umdrehen konnte. Ich habe sie alle noch heute. Unter anderem ein wunderschönes Exemplar von Epi tonium celesti . Ziemlich selten. Ich habe es gekauft, als ich zwölf war, und eine erkleckliche Summe dafür hingeblättert. Aber ich war schon immer der Überzeugung, dass Muscheln eine gute Investition sind. Die edelsten Kunstwerke von Mutter Natur.«
»Haben Sie sich die Fotos angesehen, die ich Ihnen gemailt habe?«
»O ja. Ich habe das eine Foto an Stefano Rufini weitergeleitet, einen alten Freund von mir. Er ist als Berater für eine Firma namens Medshells tätig. Sie suchen weltweit nach seltenen Exemplaren, um sie an wohlhabende Sammler zu verkaufen. Wir sind uns beide einig über die wahrscheinliche Her kunft Ihrer Muschel.«
»Und um was für eine Art handelt es sich nun?«
Von Schiller blickte sich lächelnd zu ihr um. »Sie glauben, ich würde Ihnen eine endgültige Antwort geben, ohne das Exemplar genau untersucht zu haben?«
»Sie scheinen es doch bereits zu wissen.«
»Ich habe die Möglichkeiten nur eingegrenzt, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Er erklomm die nächste Stufe. »Sie gehört zur Klasse der Gastropoda«, sagte er. Und die nächste Stufe. »Ordnung: Caenogastropoda.« Noch eine Stufe, noch mehr Latein. »Überfamilie: Buccinacea.«
»Verzeihen Sie, aber was bedeutet das alles?«
»Es bedeutet, dass Ihre kleine Muschel zunächst mal ein Gastropode ist, was man mit ›Bauchfüßer‹ übersetzen kann. Damit gehört sie zur selben Klasse von Weichtieren wie zum Beispiel Landschnecken oder Napfschnecken. Es sind sogenannte einschalige Mollusken, die einen muskulösen Fuß haben.«
»Und das ist der Name dieser Muschel?«
»Nein, das ist lediglich die phylogenetische Zuordnung. Es gibt auf der ganzen Welt mindestens fünfzigtausend Arten von Gastropoden, und nicht alle sind Meeresbewohner. Die Weg- oder Nacktschnecke etwa gehört zu den Gastropoden, obwohl sie kein Haus hat.« Er hatte den oberen Treppenabsatz erreicht und ging voran durch einen Flur mit noch mehr Vitrinen, angefüllt mit einer stummen Menagerie von Kreaturen, die Jane mit ihren glasigen Augen missbilligend anstarrten. Ihr Gefühl, beobachtet zu werden, war so stark, dass sie stehen blieb und einen Blick zurück auf den menschenleeren Korridor warf, auf die Reihen von Schaukästen voller präparierter Exemplare.
Niemand da - nur haufenweise ermordete Tiere.
Sie wandte sich ab, um von Schiller zu folgen.
Er war verschwunden.
Einen Moment lang stand sie allein in dieser endlosen Galerie, wo sie nur das dumpfe Pochen ihres eigenen Herzens hörte und die feindseligen Blicke der zahllosen Kreaturen in ihren Glassärgen spürte. »Dr. von Schiller?«, rief sie, und das Echo ihrer Stimme schien durch ein ganzes Labyrinth von Gän gen zu hallen.
Sein Kopf schob sich hinter einem Schrank hervor. »Wo bleiben Sie denn?«, fragte er. »Mein Büro ist gleich hier.«
Büro war eine viel zu großspurige Bezeichnung für den Raum, in dem er hauste. Durch eine Tür mit der Aufschrift DR. HENRY VON SCHILLER, PROFESSOR EMERITUS gelangte man in ein fensterloses Kabuff,
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