Blutmale
Inseln hier, westlich von Spanien.
Pisania maculosa kommt in diesem ganzen Gebiet vor, von
den Azoren bis zum Mittelmeer.«
»Und sonst nirgendwo? Was ist mit Amerika?«
»Ich habe Ihnen doch gerade das Verbreitungsgebiet genannt. Diese Muscheln, die ich gerade aus dem Kasten geholt habe, um sie Ihnen zu zeigen - die wurden alle in Italien gefunden.«
Sie schwieg einen Moment, den Blick auf den Schaukasten gerichtet. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt eine Karte des Mittelmeers studiert hatte. Ihre Welt, das war nun einmal Boston; wenn sie einmal die Grenze des Staats Massachusetts überschritt, war das für sie wie eine Auslandsreise. Warum eine Muschel? Warum ausgerechnet diese Muschel?
Dann hefteten ihre Augen sich auf das östliche Ende des Mittelmeers. Auf die Insel Zypern.
Roter Ocker. Muscheln. Was will der Mörder uns sagen?
»Oh«, sagte von Schiller plötzlich. »Ich wusste gar nicht, dass noch jemand hier ist.«
Jane hatte keine Schritte gehört, und das trotz der knarrenden Holzdielen. Sie drehte sich um und sah einen jungen Mann direkt hinter sich stehen. Höchstwahrscheinlich ein Student, nach seinem zerknitterten Hemd und seiner Jeans zu urteilen. Jedenfalls hatte er etwas von einem Stubengelehrten an sich, mit seiner dicken, schwarzrandigen Brille und dem winterlich bleichen Teint. Er stand so still da, dass Jane sich schon fragte, ob er stumm sei.
Dann sagte er doch etwas, doch stotterte er dabei so stark, dass es eine Qual war, ihm zuzuhören. »P-p-professor von Schiller. W-w-wir müssen jetzt sch-sch-schließen.«
»Wir sind gleich fertig hier, Malcolm. Ich wollte Detec tive Rizzoli nur ein paar Exemplare von Pisania zeigen.« Von Schiller legte die Muscheln in den Kasten zurück. »Ich schließe dann ab.«
»A-a-aber das ist doch m-m-meine …«
»Ich weiß, ich weiß. Nur weil ich nicht mehr der Jüngste bin, traut mir niemand mehr zu, dass ich einen simplen Schlüs sel umdrehen kann. Hören Sie, ich habe noch einen Stapel Papiere auf meinem Schreibtisch, die ich durchsehen muss. Wie wäre es, wenn Sie die Dame von der Kriminalpolizei zum Ausgang begleiten? Ich verspreche Ihnen, dass ich die Tür abschließe, wenn ich gehe.«
Der junge Mann zögerte, als wollte er protestieren, doch dann seufzte er nur und nickte.
Jane verstaute den Beweismittelbeutel mit der Muschel wieder in ihrer Manteltasche. »Danke für Ihre Hilfe, Dr. von Schiller«, sagte sie. Doch der alte Mann war bereits losgeschlurft, um den Kasten mit den Muscheln in die Schublade zurückzustellen.
Der junge Mann sprach kein Wort, als er Jane durch die düsteren Ausstellungskorridore führte, vorbei an den Vitrinen voller Tierpräparate. Seine Turnschuhe machten auf dem Holzboden kaum ein Geräusch. Das ist kein Ort, wo ein junger Mann seinen Sonntagabend verbringen sollte, dachte sie. In Gesellschaft von Fossilien und aufgespießten Schmetterlingen.
Die Abenddämmerung war hereingebrochen, als Jane zu ihrem Wagen zurückstapfte. Ihre Schuhe knirschten auf dem körnigen Schnee. Auf halbem Weg verlangsamte sie ihren Schritt und blieb stehen. Drehte sich um und ließ den Blick über die dunklen Gebäude schweifen, die Lichtinseln der Straßenlaternen. Niemand zu sehen, nichts rührte sich.
Am Abend ihres Todes - hat Eve Kassowitz da ihren Mör der kommen sehen?
Sie ging rasch weiter, die Autoschlüssel schon in der Hand, und eilte auf ihren Wagen zu, der jetzt ganz allein auf dem Parkplatz stand. Erst nachdem sie eingestiegen war und die Tür verriegelt hatte, ließ ihre Anspannung ein wenig nach. Dieser Fall raubt mir noch den letzten Nerv, dachte sie . Ich kann nicht einmal mehr über einen Parkplatz gehen, ohne das Gefühl zu haben, dass der Teufel irgendwo hinter meinem Rücken lauert.
Und zum Schlag ausholt.
19
1. August. Mondphase: Vollmond.
Letzte Nacht hat meine Mutter im Traum zu mir gespro chen. Sie hat mit mir geschimpft. Mich wegen meines undis ziplinierten Verhaltens ermahnt. »Ich habe dich all die alten Rituale gelehrt, und wozu?«, hat sie gefragt. »Damit du sie ignorierst? Erinnere dich daran, wer du bist. Du bist der Aus erwählte.«
Ich habe es nicht vergessen. Wie könnte ich auch? Seit ich denken kann, hat sie mir immer wieder die Geschichten von unseren Ahnen erzählt, über die Manetho von Sebenny tos zur Zeit König Ptolemaios II. schrieb: »Sie setzten unsere Städte in Brand. Sie unterwarfen die Menschen allen erdenk lichen Martern. Sie zettelten Kriege an und waren
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