Blutmale
gesehen?«
20
Wie üblich an einem heißen Sommertag war die Piazza di Spagna ein einziges Meer von schwitzenden Touristen. Ellbogen an Ellbogen schoben sie sich hin und her, teure Kameras um den Hals, die krebsroten Gesichter mit Schlapphüten und Baseballkappen beschattet. Von ihrem Aussichtspunkt auf der Spanischen Treppe beobachtete Lily das Treiben der Menge, sah, wie sich um die Verkaufsstände dichte Wirbel bildeten, wie Reisegruppen aufeinanderprallten und sich gegenseitig den Weg versperrten. Stets auf der Hut vor Taschendieben, begann sie, die Stufen hinunterzugehen, und scheuchte die unvermeidlichen Souvenirhändler weg, die sie wie Fliegen umschwirrten. Mehrmals fiel ihr auf, dass Männer in ihre Richtung schauten, doch ihr Interesse war nur flüchtig. Ein Blick, ein kurzer lüsterner Gedanke, und schon blieben ihre Augen an der nächsten attraktiven Passantin hängen. Lily ignorierte sie, als sie zur Piazza hinabstieg, sich an einem Paar vorbeidrängte, das eng umschlungen auf den Stufen stand, an einem ernsthaften jungen Mann, der über ein Buch gebeugt dasaß. Dann tauchte sie in das Gedränge ein. In Menschenmengen fühlte sie sich sicher, anonym und geschützt. Es war natürlich nur eine Illusion; es gab keinen wirklich sicheren Ort. Während sie die Piazza überquerte, während sie knipsende Touristen umkurvte und Kinder, die an ihrem ge lato schleckten, wusste sie, dass sie nur allzu leicht entdeckt werden könnte. Menschenansammlungen boten Deckung für Gejagte und Jäger gleichermaßen.
Sie erreichte das andere Ende der Piazza und passierte einen Laden mit Designerschuhen und Handtaschen, die sie sich in diesem Leben niemals würde leisten können. Dahinter war eine Bank mit einem Geldautomaten, vor dem schon drei Kunden warteten. Sie stellte sich hinten an. Als sie an die Reihe kam, hatte sie die Umstehenden schon gründlich in Augenschein genommen und keine Diebe ausmachen können, die darauf lauerten, sich ihre volle Geldbörse zu schnappen. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, einen höheren Betrag abzuheben. Sie war bereits vier Wochen in Rom und hatte immer noch keinen Job gefunden. Trotz ihres fließenden Italienisch schien nicht ein einziges Stehcafé, nicht ein einziger Souvenirladen Arbeit für sie zu haben, und inzwischen war ihr Bargeldvorrat auf fünf Euro geschrumpft.
Sie steckte ihre Karte in den Schlitz, forderte dreihundert Euro an und wartete darauf, dass die Scheine ausgespuckt wur den. Ihre Karte kam wieder heraus, dazu ein gedruckter Bon. Aber kein Geld. Sie starrte den Zettel an, und ihr wurde plötzlich flau im Magen. Sie brauchte keine Übersetzung, um zu verstehen, was da gedruckt stand.
Unzureichende Deckung.
Okay , dachte sie, vielleicht habe ich ja zu viel auf einmal verlangt. Ganz ruhig bleiben. Sie schob ihre Karte wieder hinein, tippte die PIN ein und forderte zweihundert Euro an.
Unzureichende Deckung.
Die Frau hinter ihr in der Schlange begann schon, ungeduldig zu stöhnen. Zum dritten Mal führte Lily ihre Karte ein. Forderte einhundert Euro an.
Unzureichende Deckung.
»He, Sie, wird das heute vielleicht noch was?«, fragte die Frau hinter ihr.
Lily drehte sich um und starrte sie an. Dieser eine Blick, lodernd vor Zorn, genügte, um die Frau erschrocken zurückweichen zu lassen. Lily schob sich an ihr vorbei und ging zurück zur Piazza, stürmte blindlings los, ohne wie sonst darauf zu achten, ob jemand sie beobachtete oder ihr folgte. Als sie wieder an der Spanischen Treppe ankam, hatte sie keine Kraft mehr in den Beinen. Sie sank auf die Stufen nieder und vergrub das Gesicht in den Händen.
Ihr Geld war aufgebraucht. Sie hatte gewusst, dass sie nicht mehr viel auf dem Konto hatte, dass irgendwann endgültig Schluss sein würde, aber sie hatte geglaubt, es müsste noch für mindestens einen weiteren Monat reichen. Jetzt hatte sie noch Bares für vielleicht zwei Mahlzeiten, und das war's dann. Kein Hotel heute Nacht, kein Bett. Aber was soll's?, dachte sie. Diese Stufen sind doch auch ganz bequem, und der Blick ist unbezahlbar. Wenn sie Hunger bekäme, könnte sie immer noch die Abfalleimer nach Sandwiches durchwühlen, die irgendwelche Touristen weggeworfen hatten.
Das glaubst du doch selbst nicht. Du musst irgendwie an Geld rankommen.
Sie hob den Kopf, ließ den Blick über die Piazza schweifen und sah jede Menge Männer ohne Begleitung. Hallo, Jungs, wer von euch ist bereit, für einen Nachmittag mit einem hei ßen, ausgehungerten Girl zu bezahlen?
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