Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
vergangen.
Dass Vorsatz und Realität zwei grundsätzlich verschiedene Dinge sind, musste ich an diesem Nachmittag wieder bitter erfahren. Tatsächlich kreisten meine Gedanken ausschließlich um Pia. Hatten meine Hormone eine komplette Sinnestäuschung bewirkt – oder warum bildete ich mir ein, dass der vergangene Abend und die darauf folgende Nacht nahezu perfekt gewesen waren? Wo war der Fehler in meiner Wahrnehmung? Was hatte ich nicht begriffen? Gab es irgendetwas, das ich verkehrt gemacht hatte? Oder war diese Frau einfach nur unberechenbar, ein Alien, das sich auf die Erde verirrt hatte, um das seltsame Verhalten der menschlichen Wesen zu studieren? War ich ein aufgespießter Schmetterling in ihrer Sammlung, eine neue Kerbe in ihrem Bettgestell, ein Schnappschuss für ihr Fotoalbum gebrochener Herzen?
In meinem Kopfkino spulte ich unsere sämtlichen Begegnungen ab und fand Belege für beides, für logisches Verhalten und das exakte Gegenteil. Sicher war nur, dass Dracu eine unheimliche Wirkung auf sie ausübte. In seiner Gegenwart schien sie wie hypnotisiert. Vielleicht besaß er ja wie sein Vorbild Graf Dracula die seltene Fähigkeit, Menschen in willenlose Kreaturen zu verwandeln.
Gnädigerweise ging der Nachmittag irgendwann zu Ende. Ich war froh, nicht auch noch den Abend mit meinen Gedanken verbringen, sondern einen Job erledigen zu müssen. Ich sollte bei der Dungeon-and-Dragon-Party im Club Marquis den Aufpasser spielen. Bestimmt würde es mich ablenken, andere Menschen leiden zu sehen.
Die Kostüme waren bunter als sonst: blaue Latexkörperkondome mit Reißverschlüssen auf beiden Seiten, Katzenfrauen, die nichts trugen außer einer schillernden Körperbemalung und überlangen Fingernägeln, in Ehren ergraute Zorros, Frauen mit ledernen Schirmmützen und dem Charme von KZ-Aufseherinnen. In das übliche Schwarz der Szene mischten sich blutrote Umhänge und allerlei Masken. Anscheinend wollten viele nicht erkannt werden. Neben den Stammgästen des Clubs, die offen mit ihrer Neigung umgingen, traf sich an diesem Abend auch die Szene der Gelegenheitssadomasochisten, die für eine SM-Party weite Wege in Kauf nahmen.
Auf der Tanzfläche im Erdgeschoss ging es beinahe so hart zu wie bei den legendären Punk-Konzerten der Achtzigerjahre. Da wurde gerempelt, gegrabscht, gekratzt und auf menschlichen Tieren geritten. Nur nicht so schnell, fetzig und sprunghaft wie in früheren Zeiten, weil die um die Körpermitte schwabbelnden Pfunde und die gefährdeten Gelenke da nicht mitmachten.
Ich drehte eine Runde durch die Spielzimmer im Keller. Um die Streckbänke, Stangen und Andreaskreuze hatten sich kleine Gruppen gebildet. Peitschen und brennende Kerzen gingen von Hand zu Hand, jeder durfte mal schlagen oder heißes Wachs auf nackte Körper träufeln. Doch, soweit ich das beurteilen konnte, schien niemand mehr Schaden zu nehmen, als er wollte.
Ich ging zur Bar zurück und bestellte ein Wasser. Der Realsadist, falls er denn anwesend war, hatte inmitten von so vielen Menschen keine Chance. Er musste mit seinem Opfer einen weniger belebten Ort finden. Was wohl kaum gelingen konnte, denn die separaten Studios im Obergeschoss blieben, wie mir Clara Heusken versichert hatte, diesmal geschlossen.
Ein paar Fingernägel bohrten sich in meinen Nacken und eine Hand drehte meinen Kopf nach hinten. Bevor ich protestieren konnte, presste Clara ihren lilafarbenen Schmollmund auf meine Lippen. Ich spürte ihre Zunge.
Ich schob sie zurück. »Lassen Sie das!«
»Hey, ich habe Ihnen verziehen. Es gibt keinen Grund, zickig zu sein.«
»Ich bin hier, um meinen Job zu machen.«
»Nicht die ganze Zeit.« Ihre Hand glitt über meinen Oberschenkel, bis sie zwischen meinen Beinen das gefunden hatte, was sie suchte.
Ich entfernte die Hand. »Sie sind meine Auftraggeberin und ich arbeite für Sie. Aber ich bin nicht Ihr Sklave.«
»Doch Sie möchten es gerne sein.«
»Ganz und gar nicht.«
»Ich habe eine Idee«, flüsterte Clara. »Wir gehen in den Monitorraum. Da können wir alles im Auge behalten.«
»Und welchen Hintergedanken haben Sie dabei?«
»Keinen.« Sie biss mir ins Ohrläppchen. »Versprochen.«
Ich dachte einen Moment nach. »Okay.« Was hatte ich schon zu verlieren, außer meiner Unschuld?
In ihrem privaten Reich öffnete sie eine Flasche Sekt und nötigte mir ein Glas auf, verhielt sich ansonsten jedoch ausgesprochen brav, während wir auf die Monitorwand schauten. Ein Voyeur musste sich in diesem
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