Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
Rasenkanten mit der Nagelschere geschnitten und die Tulpenzwiebeln mit dem Lineal ausgerichtet und eingepflanzt werden. Als wir aussteigen und auf ein spießiges, eher unauffälliges Häuschen zugehen, bin ich irritiert. Irgendwie hatte ich mir Renates Freundin in einer etwas nobleren Gegend, in einer repräsentativen Villa vorgestellt. Die Frau, die uns öffnet, passt in dieses Stadtviertel, passt in dieses Haus, aber sie passt nicht zu Renate.
»Hallo, Sylvie«, sagt Renate und betritt kommentarlos die Wohnung.
Für Sylvie scheint die Situation nicht neu zu sein. Sie benimmt sich, als sei dieses Treffen schon seit Wochen ausgemacht. Mir kommt der Verdacht, dass das nicht der erste Besuch dieser Art ist.
Sylvie bittet mich herein und bietet mir eine Tasse Kaffee an. Ich lehne dankend ab. Etwas an dem Haus, an der Atmosphäre oder vielleicht auch nur am Verhalten der beiden Frauen signalisiert mir, dass ich besser gehen sollte. Ich störe und ich fühle mich unwohl zwischen altdeutschen Eichenmöbeln, künstlichen Blumen und tonnenweise Nippes. Nach fünf Minuten belanglosem Smalltalk verabschiede ich mich, umarme Renate und verspreche anzurufen. Dann gehe ich.
Ein bisschen kommt es mir vor, als spucke mich das Haus wieder aus.
Der Rückweg gestaltet sich schwierig. Erstens hat der Mercedes kein Navigationssystem. Zweitens habe ich auf der Hinfahrt nicht wirklich aufgepasst und drittens passe ich auch auf der Rückfahrt nicht wirklich auf. Nach einer Viertelstunde verdichtet sich meine Vermutung zu einer Tatsache: Ich habe mich verfahren.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als anzuhalten und den Stadtplan zu Rate zu ziehen. Noch während ich mit dem Finger die aufgelisteten Straßennamen durchgehe, merke ich, dass ein Teil meines Hirns mit etwas anderem beschäftigt ist. Mit dieser Sylvie, Renates Freundin. Selten habe ich zwei so unterschiedliche Frauen in so inniger Verbundenheit gesehen. Als gäbe es etwas, was sie gemeinsam haben, worüber nicht geredet oder diskutiert werden muss. Eins wird mir da klar: Ich bin weit davon entfernt, Renates beste Freundin zu sein. Es gibt so einiges, was sie mir nicht erzählt hat. Was Sylvie aber wahrscheinlich weiß. Zum Beispiel, dass Renate ihren Mann wegen seiner SM-Beziehung mit einem anderen Sadisten betrogen hat. Wer dieser Sadist ist und ob sie von ihm die ominösen Beweise bekommen hat, von denen heute Morgen die Rede war.
Sylvie könnte mir bestimmt auch erklären, was in dem Sklavenvertrag mit dem Passus gemeint ist, dass derjenige, der sich nicht an die Vereinbarung hält, sein Heil verwirkt habe. Diese geschwollene Formulierung hat mich die halbe Nacht beschäftigt. Was ich auch nicht kapiere, ist, was Jochen heute Morgen damit meinte, als er sagte, Renate säße in einem Glashaus und er könne ihre Affäre an die große Glocke hängen.
Ich komme leider nicht dazu, länger darüber nachzudenken. Hinter mir hupt es. Ich stehe einem Achtzehntonner im Weg. Und mit dem werde ich mich ganz bestimmt nicht auf einen Machtkampf einlassen.
Eine halbe Stunde später fahre ich die gekieste Auffahrt zum Averbeck'schen Anwesen hoch. Froh, es endlich gefunden zu haben. Wie lernt man eine Stadt am besten kennen? Genau. Indem man sich verfährt. So gesehen, habe ich Münster heute ein gutes Stück besser kennen gelernt. Und immerhin hatte ich dadurch genug Zeit, mir Gedanken über mein weiteres Vorgehen zu machen. Ich werde meine Sachen packen und wieder in ein Hotel ziehen. Jetzt, wo Renate nicht mehr da ist, möchte ich auch nicht mehr hier wohnen.
Doch kaum habe ich das Haus betreten, meine Handtasche abgestellt, kommt Jochen die Treppe heruntergestürmt. »Wo ist Renate?«
Der Auftritt, den ich vor unserer Abfahrt befürchtet habe, findet jetzt statt. Leider.
»Bei einer Freundin.«
»Bei welcher?«
»Lass sie in Ruhe, Jochen. Du kannst froh sein, dass sie dich nicht anzeigt.«
Jochen packt mich an den Schultern und schüttelt mich so heftig, dass meine Zähne aufeinander schlagen.
»Wo ist Renate?«, schreit er.
»Das weiß ich nicht!«, schreie ich zurück. »Ich habe sie zum Bahnhof gebracht. Ich weiß nicht, wo sie hin ist. Sie hat nur gesagt, sie fährt zu einer Freundin.«
»Und wieso hast du dann so lange gebraucht, um wieder herzukommen?«
»Ich war Kaffee trinken.«
Er lässt mich los. Von einer Sekunde auf die andere verfliegt seine Aggressivität. Wie ein großer hilfloser Junge steht er mit gesenktem Kopf und hängenden Armen vor mir und
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