Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
mit ›Das verstehst du nicht‹ kommentieren. Erkläre es mir halt.«
»Könntest du mich zu einer Freundin bringen?«, fragt sie.
»Ja, natürlich.«
Unvermittelt fängt sie an zu weinen. Sie schluchzt wie ein kleines Kind, das sich im Wald verirrt hat und nicht mehr nach Hause zurückfindet. Ich bleibe einfach neben ihr sitzen, halte sie fest und warte. Es dauert Minuten, bis sie sich wieder beruhigt hat.
Wir kommen unbehelligt aus dem Haus. Von Jochen ist nichts hören und zu sehen. Doch das mulmige Gefühl, das ich die ganze Zeit habe, dieses Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, etwas, wobei man erwischt werden und wofür man zur Rede gestellt werden kann, verblasst erst, als wir im Auto sitzen.
»Müssen wir deiner Freundin nicht Bescheid geben, dass du kommst?«, frage ich, als wir in Renates Mercedes das große Eingangstor passieren und auf die Straße einbiegen.
»Das habe ich schon gemacht«, antwortet sie und starrt zum Fenster hinaus. Besonders gesprächig ist sie nicht. Aber das ist nach einer solchen Auseinandersetzung auch nicht zu erwarten.
Ich konzentriere mich aufs Autofahren und genieße es, mal wieder in einem Wagen zu sitzen, der Feuer unterm Hintern hat. Er ist zwar nicht mit ›meinem‹ Porsche vergleichbar, aber ... Oje, der Porsche. Mein Assistent, Martin Cornfeld, müsste mittlerweile die Rechnung von der Autoverleihfirma bekommen haben. Bei der Vorstellung, was für einen Aufstand er machen wird, wenn er erfährt, dass ich mir ohne Not einen 911er ausgeliehen habe, bekomme ich einen ganz trockenen Hals.
Da klingelt mein Handy.
Renate nimmt es aus meiner Handtasche und reicht es mir. Auf dem Display erscheint Cornfelds Nummer. Das nennt man Gedankenübertragung, denke ich und gebe Renate das Telefon zurück.
»Willst du nicht drangehen?«, fragt sie irritiert.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Das verstehst du nicht«, sage ich und ziehe eine Grimasse. Rache muss sein.
»Nimm doch nicht immer alles so persönlich«, antwortet sie und steckt das Telefon zurück in meine Tasche.
»Weißt du«, sage ich, »ich würde dir gerne helfen. Ich würde dich gerne verstehen. Aber ich begreife dich nicht. Ich begreife nicht, wie man ...«
Renate drückt ein Taschentuch gegen ihre Nase und stöhnt kurz auf.
»Du musst zum Arzt«, sage ich. »Vielleicht hat er dir die Nase gebrochen.«
»Für dich bin ich doch nur pervers«, erwidert sie leise. »Eine Masochistin, die es nicht besser verdient hat.«
Hätte ich gestern Nacht diesen Sklavenvertrag nicht gelesen, würde ich ihr jetzt widersprechen.
»Nun«, sage ich, »es muss doch für alles einen Grund geben, eine Motivation, einen kausalen Zusammenhang. Und irgendwie hat ja immer alles mit Mama und Papa zu tun. Aber was müssen Eltern anstellen, damit ihre Tochter Masochistin wird?«
»Mein Psychotherapeut«, antwortet Renate und betrachtet ihr blutverschmiertes Taschentuch, »hat mir mal erklärt, dass Sadomasochismus angeblich auf eine fehlgegangene narzisstische Entwicklung in der Kindheit zurückgeht.«
»Aha«, sage ich, »das erklärt natürlich alles.«
Ohne auf meinen sarkastischen Ton einzugehen, redet sie weiter. »Mein Vater hatte nie Zeit für mich. Kindererziehung war in seinen Augen Frauensache. Und wenn er sich mal an mich gewandt hat, dann nur, um mir zu sagen, dass ich nicht sportlich genug, nicht hübsch genug und nicht schlau genug sei. Irgendwann hatte ich raus, dass ich seine Aufmerksamkeit nur dann erringen konnte, wenn ich etwas anstellte. Denn das Bestrafen, das war Männersache.«
»Das heißt, du hast ihn nur dann dazu gebracht, sich mit dir zu beschäftigen, wenn du eine Bestrafung provoziert hast?«
»Genau. Und irgendwie hat sich dieses Bestrafen verselbstständigt, bekam eine seltsame Faszination. Mein Therapeut meint, das sei wie eine Zahnplombe. Mein Selbst ergibt kein geschlossenes Bild. Und das, was fehlt, das ergänze ich durch diese Plombe.«
»Und diese Plombe ist der Sadomasochismus?«
Sie nickt.
»Kann denn dein Therapeut diese Plombe nicht durch etwas anderes ersetzen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das Problem ist, ich liebe SM. Es ist wie eine Sucht ...«
»Und Jochen«, unterbreche ich sie. »Jochen hat dir da nie helfen können?«
»Jochen«, fährt sie auf, »Jochen ist das Letzte, das Allerletzte!«
Und in ihrem Gesicht ist so viel Wut und Hass, dass ich erschrocken von ihr abrücke.
Renate dirigiert mich in eine Gegend mit vielen ähnlich aussehenden Reihenhäuschen, wo die
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