Blutmord (Ein Paula Franz und Max Dörner Krimi)
zu, ohne den Blick von ihm zu wenden, bis er sie auch sah. Heute konnte sie in seinem Blick nicht lesen. Sonst war er wie ein offenes Buch für sie, er konnte nichts vor ihr verheimlichen. Heute jedoch waren seine Augen ganz verhangen, tiefe Schatten lagen auf seinem Blick. Er sah schlecht aus, insgesamt wirkte er eingefallen, er schien um Jahre gealtert zu sein. Dieser Schlappschwanz, dachte sie. Sie bemerkte, wie erneut Wut in ihr aufkeimte. Maßlose Wut. Sie hatte das dringende Bedürfnis, zu ihm zu gehen und auf ihn einzuschlagen, immer und immer wieder. Doch sie war kontrolliert genug, dem Drang nicht nachzugeben. Alles zu seiner Zeit, sagte sie sich. Er blieb stehen und wartete auf sie. Dann schaute er kurz zurück zum Klassenraum, sah sie wieder an und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Dann sah er weg und ging weiter. Er schaute sie noch einmal flüchtig an und formte mit seinen Lippen lautlos „später“. Dann war er fast schon hinter der nächsten Ecke verschwunden.
Kapitel 10
Die Kriminalkommissarin begleitete die beiden Lehrer zurück ins Lehrerzimmer, das sich langsam füllte. Herr Meindel hatte sofort mit dem Schulgong das Klassenzimmer verlassen. In einer ruhigen Ecke bat sie nun den Klassenlehrer und die Vertrauenslehrerin, Kate aus Lehrersicht zu beschreiben. Kate schien eine gute Schülerin gewesen zu sein. Aus Lehrersicht einigermaßen beliebt, es gab zwar hin und wieder Unstimmigkeiten, aber sie war in den Klassenkreis integriert. Kate war dominant, das machte sie aber offenbar nicht unbeliebt. Die beiden Lehrer konnten sich den Tod der jungen Schülerin nicht erklären.
Paula nickte nachdenklich und zog das Papier aus der kopierten Schulakte hervor. „Ich habe noch eine Frage, das Bild, das ich bisher von Kate Dreyer habe, entspricht genau Ihren Schilderungen: Sie kommt aus einem guten Elternhaus, war recht gut in der Schule, aufgeschlossen, insgesamt eher unauffällig. Aber wie passt dieser Schuleintrag ins Bild?“ Sie hielt den beiden Lehrern das Papier hin. Beide lasen dieses und schauten Paula an.
Herr Baumann ergriff als erster das Wort: „Das kann ich mir wirklich nicht erklären. Die Erpressung einer anderen Schülerin passt wirklich nicht zu Kate. Hier steht ja auch, dass sie sich dazu mit Herrn Meindel austauschen musste, aber von ihm kann ich keine Aussage zu der ganzen Sache erkennen. Aber der Vorwurf wurde ja offenbar auch zurückgezogen, sicherlich ein Versehen. Das passt gar nicht zu Kate. Am besten fragen Sie da direkt einmal bei Herrn Meindel nach. Als Klassenlehrer hätte ich eigentlich über die Sache unterrichtet werden müssen. Das ist mir unerklärlich.“ Herr Baumann sah nun seine Kollegin fragend an. Frau Lichter schüttelte ebenfalls ratlos den Kopf. „Das kann ich mir einfach nicht erklären. Sie war nicht die beliebteste Schülerin. Das weiß ich auch. Aber sie war gut in der Schule, hatte soziale Kontakte und auch zu Hause schien sie nie irgendwelche Schwierigkeiten zu haben. Die Familie hat Geld, wissen Sie. Es mangelte dem Mädchen an nichts. Was sie wollte, bekam sie auch. Eine Erpressung hatte sie da wohl nicht nötig, oder?“ Die Lehrerin sah Paula fragend an.
„Und Drogen?“, hakte Paula nach, „Hatten Sie das Gefühl, dass Kate Drogen nahm?“
Augenblicklich schüttelten beide Lehrer die Köpfe, fast synchron. Frau Lichter sah sehr erstaunt aus und wiegelte sofort den Gedanken ab: „Auf keinen Fall, dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen. Wir haben hier häufiger mit Schülern zu tun, die Drogen konsumieren. Im Laufe eines Lehrerlebens entwickelt man dafür einen Blick. Ich bin mir absolut sicher, dass Kate keinerlei Drogen zu sich genommen hat. Vielleicht hat sie mal etwas Haschisch ausprobiert. Das macht in dem Alter ja fast jeder. Aber sie hat definitiv nicht regelmäßig Drogen konsumiert.“
Nach einigen weiteren Erklärungen von anderen Lehrern vervollständigte sich das Bild: Kate war zwar eine Person, die gerne im Mittelpunkt stand, die auch auf andere herabschaute, sich also nicht nur beliebt bei den anderen Schülern machte, aber vordergründig hatte sie keinerlei Probleme. Sie konnte sich behaupten und durchsetzen und war sehr überzeugt von sich und ihrer Wirkung auf andere. Wie ihr die beiden Lehrer empfohlen hatten, wollte Paula nun abschließend noch einmal ausgiebig den Schulpsychologen über Kate befragen. Die Schüler der Klasse selbst würde sie in den nächsten Tagen befragen. Sie wollte ihnen erst noch Zeit geben, den
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