Blutnebel
Theisen hat jetzt Zeit für Sie.«
Eine Schwester brachte sie in einen Raum, der glücklicherweise keine Behandlungsliegen enthielt. Ein Schreibtisch war zusammen mit zwei Stühlen in eine Ecke gequetscht worden, während der restliche Platz von zwei Bücherregalen eingenommen wurde, die vor medizinischen Blättern und Arztzeitschriften überquollen.
Ramsey trat an die Wand mit den gerahmten Urkunden und studierte sie. Theisen war etwas älter, als sie bei ihrer ersten Begegnung vermutet hätte, nämlich schon näher an achtzig als an siebzig. Sie fragte sich, warum der Mann immer noch freiwillig weiterarbeitete, wo doch bereits die meisten der zehn Jahre Jüngeren sich längst in ein Leben zurückgezogen hätten, in dem sie angeln gingen und ihre Frau durch permanente Anwesenheit zu Hause in den Wahnsinn trieben.
Hinter ihr ging die Tür auf, und als sie sich umwandte, stand der Mann vor ihr, den ihr Stryker in dem Lokal vorgestellt hatte.
»Ramsey Clark.« Sowohl seine Miene als auch seine Stimme drückten echte Freude aus, ehe er die Tür hinter sich schloss und mit ausgestreckter Hand auf sie zukam. Als sie seine Hand ergriff, deckte er seine zweite Hand darüber. »Ich wusste doch, dass Sie Devlin irgendwann sattkriegen und sich mir zuwenden. Es war nur eine Frage der Zeit.«
»Es dauert nicht besonders lang, Stryker sattzukriegen«, stimmte sie zu und versuchte, die Erinnerung an den verblüffenderweise bis ins Mark gehenden Kuss abzuschütteln, den sie bei ihrer letzten Begegnung mit ihm gewechselt hatte. »Aber eigentlich brauche ich Ihre Hilfe.«
Er gab ihre Hand frei und wies auf einen Stuhl. »Da Sie aussehen wie das blühende Leben, aber vermutlich nicht für Sie selbst.«
Sie setzte sich und wartete, bis er auf dem anderen Stuhl Platz genommen hatte. »Nein, nicht für mich. Es geht um einen Fall, an dem ich arbeite. Ich fürchte, ich darf Ihnen nicht allzu viele Einzelheiten verraten …«
Er winkte ab. »Keine Sorge. Ich habe ein bisschen Erfahrung darin, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Sie können das nicht wissen, aber ich bin vor Jahren der amtliche Leichenbeschauer des County gewesen, ehe der Staat sämtliche Stellen mit Rechtsmedizinern besetzt hat.«
Neugierig geworden, musterte sie ihn. »Das wusste ich nicht.«
»Fast dreißig Jahre lang. Ich glaube, seit fünfzehn Jahren nehmen sie nur noch studierte Rechtsmediziner.« Er runzelte kurz die Stirn über der dunkel gerahmten Brille, ehe er den Kopf schüttelte. »Das macht mir nichts mehr aus. Es war vernünftig so. Ich habe im Lauf der Jahre einiges gelernt, aber mit dem Wissen, das Rechtsmediziner in ihren Spezialseminaren erwerben, kann ich nicht mithalten.«
»Und Sie wollten auch nicht«, mutmaßte Ramsey scharfsinnig.
Sein Lächeln legte die Haut um seine haselnussbraunen Augen in unzählige Falten. »Sie haben recht. Ich habe es als Dienst an der Gemeinschaft verstanden, aber es war wirklich keine Arbeit, die ich genossen hätte. Es war mir eine Erleichterung, wieder ausschließlich lebende Patienten zu behandeln und nicht mehr mitten in der Nacht diese Anrufe zu bekommen. Offen gestanden war ich wohl nie die Idealbesetzung dafür.«
Ramsey fiel etwas ein. »Waren Sie dann etwa auch zuständig, als Sally Ann Porters Leiche gefunden wurde?«
Er verzog das Gesicht. »War ich, ja. Das muss … achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahre her sein. Ich weiß noch, dass es dasselbe Jahr war, in dem Lucas …« Er hielt inne, sah sie an und korrigierte sich. »Es war vor neunundzwanzig Jahren.«
Es berührte sie in eigentümlicher Weise, dass er sich selbst unterbrochen hatte, ehe ihm etwas über Strykers Vater herausrutschte. Stryker war in der Stadt offenbar ziemlich beliebt – und das nicht nur bei Frauen. »Ich habe gerade erst die Geschichte über ihren Tod gehört und wollte mich danach erkundigen. Man hat mir gesagt, dass die Leiche schon zu verwest war, um sie ohne Weiteres zu identifizieren.«
Er nickte, schlug ein Bein über das andere und zog an der Falte seiner Anzughose. »Es war ohne Übertreibung die schlimmste Leiche, die ich je zu sehen bekommen habe. Es war nicht einmal mehr genug Fleisch daran, um festzustellen, ob ein Verbrechen stattgefunden hatte. Jedenfalls hatte sie keine entsprechenden Knochenbrüche. Soweit ich mich entsinne, wurde sie schließlich anhand zahnärztlicher Unterlagen identifiziert.«
Was mehr oder weniger zu dem passte, was Dev ihr erzählt hatte. Nach wie vor hätte sie gern den
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