Blutnebel
Und zu hören, wie sie ihr Gespräch abbrachen, nur um es kurz danach wieder aufzunehmen.
Die meisten, so dachte sie grimmig, begriffen die Last des Stigmas nicht, das man zu tragen hatte, wenn man in der armen weißen Unterschicht in genau so einer Stadt geboren war. Wie brennend das Bedürfnis nach Entkommen sein konnte.
Und wie dieses brennende Bedürfnis Entscheidungen beflügeln konnte, die man hinterher jahrelang bereute.
Da kam Tammy wieder an den Apparat und gab den Hörer gleich an die Friseurin weiter, die vor zwei Monaten Cassie Frost die Haare geschnitten hatte. Ramsey stellte ihr in etwa die gleichen Fragen, die sie auch Tammy gestellt hatte, mit der gleichen mageren Ausbeute. Sie beendete das Gespräch im selben Moment, als sie einen Parkplatz in der Nähe ihres Ziels erspäht hatte.
Kurz darauf stieß sie die Tür zur Hausarztpraxis von Buffalo Springs auf und fand sich sogleich in einer erstaunlich modernen Lobby wieder. Sie trat an den Empfangstresen, wo eine Frau Ende fünfzig gerade ihr Talent für Multitasking bewies, indem sie gleichzeitig telefonierte und etwas in den Computer eintippte. Ihr dunkles Haar war von zahlreichen grauen Strähnen durchzogen und umrahmte in zwei sanften Wogen ihr Gesicht. Auf ihrem Namensschild stand Jenny Callison.
Die Frau lächelte Ramsey an und hob einen Finger lange genug von der Tastatur, um ihr zu bedeuten, dass sie kurz warten solle.
Ramsey nutzte die Gelegenheit, um die anderen Leute im Wartebereich zu mustern: ein Paar, das sicher über neunzig war, einen bärtigen Mann mit einer blutdurchtränkten Bandage an der Hand und eine jüngere Frau mit einem Jungen, der aussah, als wenn sein schwerstes Leiden Langeweile wäre. Er trat mit zunehmender Heftigkeit gegen die Beine seines Stuhls und starrte angewidert an die Decke, während seine Mutter eine Zeitschrift durchblätterte.
Als die Empfangsdame auflegte, sah sie mit einem warmherzigen Lächeln zu Ramsey hoch. »Nett, dass Sie gewartet haben. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich würde gern Doc … Dr. Theisen sprechen falls möglich.«
»Und Sie heißen?«
»Ramsey Clark.« Als die Frau sich sofort dem Terminplan auf ihrem Bildschirm zuwandte, fügte Ramsey hastig hinzu: »Ich habe keinen Termin.«
Mit schon erheblich kühlerem Lächeln drehte sich die Rezeptionistin wieder zu ihr um. »Sind Sie Pharmavertreterin? Die Ärzte hier wollen nämlich keine …«
»Nein, nichts dergleichen.« Ramsey kramte eine Visitenkarte heraus und reichte sie der Frau. »Ich habe ein paar Fragen zu einem Fall, an dem ich arbeite und bei dem er mir vielleicht weiterhelfen könnte. Vielleicht kann er mich anrufen. Meine Nummer steht auf der Karte.«
Jenny reckte den Hals und warf einen geübten Blick in den Wartebereich. »Wenn Sie ein bisschen warten, kann er Sie wahrscheinlich einschieben. Dr. Matlock ist heute auch hier, also dürfte es nicht allzu lange dauern.«
Ramsey nickte und suchte sich einen Stuhl. Arztpraxen behagten ihr ganz allgemein nicht, doch heute ertrug sie es leichter, wahrscheinlich weil sie nur beruflich hier war. Um etwas zu tun zu haben, nahm sie sich eine Zeitschrift und begann darin zu blättern, bis sie merkte, dass das Blatt ein halbes Jahr alt war. Sie legte es wieder beiseite und lehnte sich zurück, wobei sie den Jungen auf der anderen Seite ignorierte, der ihr die Zunge herausstreckte.
Eine Arzthelferin in weißer Hose und gemustertem Kittel kam mit einem Klemmbrett herein und rief laut: »Esther Gentry.«
Das ältere Paar brauchte geraume Zeit, um sich zu erheben und in Richtung der Arzthelferin davonzuwackeln. Kurz darauf kam eine andere Frau in ähnlicher Aufmachung herein und rief den Mann mit der verletzten Hand.
Ramsey fand nun alte Reportagen doch interessanter als das reichhaltige Repertoire an beleidigenden Grimassen, die das Kind auf Lager hatte, und so griff sie erneut nach der Zeitschrift und versuchte zu lesen. Nach einer Viertelstunde ging ihr auf, dass sie die Zeit besser hätte nutzen können, wenn sie die ViCAP-Ergebnisse durchgesehen hätte. Doch Powell wollte nicht, dass irgendetwas den zum Büro umfunktionierten Bungalow verließ, daher war das ohnehin nicht infrage gekommen.
Eine halbe Stunde später hatte Ramsey reichlich Zeit gehabt, um zu begreifen, dass Arztpraxen einen völlig anderen Zeitbegriff hatten als Fachfremde. Trotzdem war sie überrascht, als das alte Paar zum Empfangstresen geschlurft kam und Jenny den Kopf hob und sie anlächelte. »Ramsey? Dr.
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