Blutportale
sicher nicht.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Achten Sie trotzdem auf Ihre Kehle und das Handgelenk, das Ihre Waffe führt«, deutete er an. Damit verstieß er gegen die Regeln der union, aber anscheinend konnte er sie zu gut leiden. Er schloss die Tasche, sah auf die Uhr, ging durch die Tür, die in den salle d'armes und zur Kampfbahn führte. »Es ist bald so weit, Rapier. Man wird Sie rufen, sobald die Spuren der Kämpfe weggew... beseitigt worden sind.« Bevor sie nachfragen konnte, was genau er damit meinte, war er hinausgegangen. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, öffnete er sie aber noch einmal einen Spalt: »Die reine Kampfzeit betrug siebenundvierzig Sekunden. Beide Gefechte zusammen. Aber glauben Sie mir, Rapier: Mehr Zeit brauchte er nicht.«
Klack. Die Tür fiel ins Schloss, und er war weg.
Saskia geriet ins Grübeln, während sie sich langsam in den Spagat absenkte und spürte, wie sich die Sehnen und Muskeln streckten. Siebenundvierzig Sekunden waren nicht viel. Sie stand auf, zog die weißen Lederhandschuhe aus ihrer Sporttasche, streifte sie über und zurrte den Klettverschluss am hinteren Ende sehr fest. Dabei fiel ihr Blick auf die KendoAusrüstung, die sie ebenfalls in der Tasche mit sich herumschleppte. Seit sie denken konnte, betrieb sie unter Anleitung ihres Vaters das klassische europäische Fechten und hatte nach einiger Zeit auch ihre Faszination für die japanische Art entdeckt. Es war mehr als ein Sport für Saskia. Sie lebte und liebte das Kämpfen, die Veranlagung steckte in ihrem Blut, und wenn sie auf der Planche stand, schien ein anderer Geist in sie zu dringen und sie zu beseelen. Ein Kampfgeist im wahrsten Sinne des Wortes: Mut, Furchtlosigkeit, Geschwindigkeit, Präzision und vor allem Intuition, von der sie annahm, dass sie sie von ihrem Vater geerbt hatte.
In ihrem Fechtverein war sie rasch aufgestiegen und hatte alle internen Wettkämpfe mit einer nahezu unheimlichen Überlegenheit gewonnen. Sie hatte es mit der Florett-Mannschaft in die oberste Liga geschafft und wurde sogar gebeten, dem deutschen Olympiateam beizutreten. Saskia erinnerte sich sehr genau daran, wie sie abgelehnt hatte und welche Verachtung ihr alter Verein ihr danach entgegengebracht hatte. Es war einem Verrat gleichgestellt worden, und das ließen die meisten sie deutlich spüren.
Saskia hatte absurderweise gewusst, dass sie bei Olympia gewinnen würde, aber es scherte sie nicht. Aus einem Gefühl heraus war ihr klar gewesen, dass sie enttäuscht zurückgekehrt wäre. Enttäuscht, weil sie bei dem Wettkampf niemanden gefunden hätte, der sich mit ihr messen konnte. Niemand verstand, dass es für sie keine Herausforderung war; zugleich war sie jedoch nicht in der Lage, zu formulieren, durch was ihr Ehrgeiz geweckt wurde.
Aber das sollte sich ändern.
Nach dem Vereinswechsel war ein Unbekannter zu Besuch gekommen und hatte sich lange mit ihrem Vater unterhalten, bevor man sie dazugerufen hatte. Ein denkwürdiges Gespräch bei Kerzenschein.
Sie war damals achtzehn gewesen. Ihr Vater hatte ihre Hand genommen und den silbernen Knopf mit den drei gekreuzten Dolchpaaren hineingelegt. »Unsere Familie hat seit vielen Jahrhunderten gute Fechter in die Welt geschickt«, hatte er mit einer Feierlichkeit in der Stimme erklärt, die Saskia wunderte; sie kannte ihren Vater nur als sehr heiteren, wenig theatralischen Menschen. »Unsere Kunst war auf den Schlachtfeldern einmal sehr begehrt. Wir haben die besten Kämpfer und den einen oder anderen Attentäter ausgebildet, der später Geschichte schrieb. Heute braucht man dieses Handwerk nicht mehr, die Mächtigen verlassen sich auf High-Tech-Waffen und Wissenschaft. Aber wir und alle, die etwas auf die Tradition geben, halten eine Vereinigung am Leben, welche die Schönheit und die Ehrlichkeit des Fechtens bewahrt. Mit scharfen Klingen.« Durch seine Arbeit als Ingenieur reiste er viel in der Welt umher, und die Schrammen, die er mit nach Hause brachte, waren immer als Arbeitsunfälle auf Baustellen deklariert worden. Doch nun schien es so, als würde es für sie eine wesentlich aufregendere Erklärung geben.
Fasziniert von seinen Worten und der veränderten Stimme hatte Saskia gelauscht und dabei abwechselnd zwischen ihm und dem Unbekannten hin- und hergeblickt. Ihr Ehrgeiz, ihr Kampfgeist regte sich gewaltig! Sie wusste sofort: Auf so etwas hatte sie gewartet. »Es gibt mehr von uns, als die moderne Welt weiß, Saskia«, hatte er ihr eröffnet.
Weitere Kostenlose Bücher