Blutportale
Kaskade, die sich aus vielen Metern Höhe in ein Bassin ergoss.
Saskia sah sich im trüben Halblicht um, ohne einen von ihren Mitstreitern oder Shafiq ausmachen zu können. »Wo seid ihr?«
Eine Faust traf sie an der rechten Wange, sie wurde zur Seite geschleudert und musste sich an der Wand abstützen.
Vor ihr stand der Grabräuber und hielt eine Pistole auf ihr Gesicht gerichtet!
»Wer seid ihr?«, schrie er auf Englisch. Er wirkte verängstigt und bebte, ständig sah er sich um. »Los! Wer seid ihr?« In der anderen Hand hielt er das Pergament, auf dem Zeilen silbrig leuchteten. Will hatte es durch sein Rezitieren zum Leben erweckt und vermutlich noch viel Schlimmeres angerichtet.
»Wir suchen Sie, Barakeh«, gestand Saskia. »Sie befinden sich in großer Gefahr!« Langsam zeigte sie auf das Blatt. »Darin steckt eine Kraft, die Sie töten kann.«
»Wie die Amerikaner da draußen?« Shafiq schluckte. »Machen Sie, dass es aufhört!« »Das kann ich nicht.« { »Was wollen Sie dann von mir?«
»Geben Sie mir das Pergament. Ich muss es untersuchen, und danach«, betonte Saskia, »kann ich vielleicht etwas ausrichten.«
Ein Zittern lief durch den Turm, der Sturm rüttelte an dem uralten Monument. Steinchen und Mörtelstücke fielen herab und trafen Saskia schmerzhaft an der Schulter.
»Bitte«, sagte sie eindringlich, »geben Sie es mir, bevor alles einbricht und wir lebendig begraben werden!« Sie streckte vorsichtig die Hand aus. Ihre Gabe hatte sich vollkommen aufgeladen und wartete nur darauf, etwas auslösen oder beenden zu können. Sie würde sie gleich einsetzen, um die entfesselte Macht des Pergaments einzudämmen und weitere Katastrophen zu verhindern - auch wenn sie noch nicht die geringste Idee hatte, wie sie das tun sollte.
Shafiq betrachtete sie, sah gehetzt um sich und sprach etwas auf Arabisch. Da es sich monoton wiederholte und mehrmals allähu akbar fiel, nahm Saskia an, dass es sich um ein Gebet handelte. Und trotzdem hatte er den Arm mit der Waffe immer noch nicht gesenkt. Der sandige Boden unter ihnen geriet in Bewegung, hob und senkte sich sanft, als würde Wasser darunter fließen und nach oben dringen wollen. Beide mussten sich anstrengen, die Balance nicht zu verlieren.
»Mister Barakeh, bitte!«, rief sie laut. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt, um ...« Mannsgroße Sandfontänen spritzten um sie herum in die Höhe. Feine Körner stachen in Saskias Augen, und sie musste die Lider schließen. Dann wurde sie auf einmal nach oben katapultiert und stürzte gleich darauf in den weichen Sand zurück.
Sie hörte Shafiqs Schreie, er schoss mehrmals auf irgendjemanden, dann klickte es hohl, das Magazin war leer. »Justine? Will?«
Der Plünderer hörte nicht mehr auf, vor Entsetzen zu schreien.
Saskia gelang es endlich, sich die Augen freizureiben und nach dem Mann zu schauen: Die Welt hatte sich verändert. Der Raum, in dem sie sich befand, war zweidimensional und in ein vielschichtiges Grau getaucht. Doch dadurch konnte Saskia umso besser erkennen, dass Shafiq umzingelt war - von ätzend grünen Gestalten. Es waren Silhouetten von Männern, Frauen und Kindern, und sie strebten von allen Seiten auf den Plünderer zu. Als die Ersten ihn erreicht hatten, schlossen sich ihre schimmernden Finger um seine Kleidung und das verletzliche Fleisch darunter. Dann zogen sie - und Shafiq kreischte!
Immer schneller grabschten die Gestalten nach ihm, rissen seine schrecklichen Wunden weiter auf. Blut durchtränkte seine Kleidung.
Shafiq hielt das Pergament schon lange nicht mehr. Es lag einen Meter von ihm entfernt, halb von Sand bedeckt und mit Blutspritzern besudelt. Die Schriftzeichen leuchteten noch immer. Die Gestalten kümmerten sich nicht darum. Sie setzten ihr grausiges Unterfangen fort, den Mann bei lebendigem Leib auseinanderzureißen.
Saskia musste die Gelegenheit nutzen, das Pergament an sich zu bringen! Da sich die Gestalten, von denen sie annahm, dass es sich um die Geister der Toten des Grabturms handelte, nicht um sie kümmerten, erschien es ihr möglich. Danach würde sie sich auf ihre Gabe verlassen müssen. Vorsichtig rutschte sie zwischen den Gestalten hindurch und bemühte sich, bloß keine davon zu berühren.
Das Pergament war nun zum Greifen nah. Sie streckte behutsam den rechten Arm aus, Zentimeter trennten sie noch davon - als sich die Silhouette eines Kindes zu ihr umdrehte. Das Gesicht war eine ebene Fläche, die Augen schwarze Löcher. Und doch hatte
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