Blutportale
abgetrennten Kopf, und sie musste sich beherrschen, um nicht aufzuschreien. Ihr wurde schlagartig kalt, und ihr Kreislauf sackte nach unten.
Der Arzt nickte. »Halten Sie sich an meinen Rat, Frau Lange.« Er stand auf und langte nach seiner Tasche; dann reichte er ihr die Hand. »Rufen Sie mich bitte jederzeit an, wenn Sie meinen Beistand benötigen. Was Sie und mich angeht, so werde ich ab sofort die Regeln der union außer Acht lassen.« Er lächelte, weil er das Erstaunen in ihren Augen erkannte. »Fragen Sie nicht. Es ist einfach so, dass ich Sie mag, Frau Lange. Meine Tochter wäre jetzt genauso alt wie Sie.«
Saskia schüttelte seine Hand; deren Wärme tat ihr gut. Sollte sie nachfragen, was mit seiner Tochter geschehen war? »Sie haben etwas gut bei mir«, sagte sie stattdessen.
Er zwinkerte ihr zu und verließ das Zimmer; gleich danach fiel die Tür der Wohnung ins Schloss.
Saskia atmete tief ein und betrachtete sich im Spiegel gegenüber. Ihr Gesicht war bleich und wirkte geschätzte fünf Jahre älter, unter ihren Augen lagen tiefe Ringe, und sollte sie am nächsten Morgen mit grauen Haaren erwachen, würde sie sich nicht einmal wundern. »Solange ich meinen Verstand nicht verliere.«
Mit neuer Entschlossenheit stand sie auf. An den Wänden und in Vitrinen bewahrte sie ihre eindrucksvolle Sammlung von Klingen aus Meisterschmieden auf, einige uralt, andere neu. Saskia suchte einen ihrer Lieblingsdolche aus der Vitrine und clippte ihn sich mit einem Schnellziehholster am Gürtel auf dem Rücken fest; einen zweiten, kürzeren steckte sie in ihr Unterarmhalfter. Mit den vertrauten Waffen ausgestattet, fühlte sie sich wesentlich besser. Sie verließ ihre Wohnung und ging zum Fahrstuhl; dabei musste sie an Patricks Tür vorbei, und dieses Mal war es mit ihrer Beherrschung vorüber. Obwohl sie mit eiserner Disziplin einen Fuß vor den anderen setzte, strömten Tränen über ihre Wangen. Sie hatten sich so lange gekannt; er hatte sie immer unterstützt, ihr den Rücken freigehalten und war eine Stütze des Restaurants gewesen. »Ach, verflucht!«, stieß Saskia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wem wollte sie hier etwas vormachen, etwa sich selbst? Patrick war nicht nur eine Stütze gewesen, sondern ein Freund. Ihr bester Freund. Der wichtigste Mensch in ihrem Leben, der ihr immer das Gefühl gegeben hatte, alles schaffen zu können. Dessen Gegenwart für sie bedeutet hatte, dass sie zu Hause war.
Es würde Monate oder Jahre dauern, bis sie das Geschehen bewältigt hatte. Doch als Saskia den Aufzug erreicht hatte, wischte sie zuerst die Tränen aus dem Gesicht und drückte erst dann den Knopf. »Aber ich werde es bewältigen«, sagte sie laut, als die Türen vor ihr zur Seite glitten. Saskia begab sich in die Kabine und drückte den Knopf für das Erdgeschoss, und während der Lift sie nach unten brachte, versuchte sie, aus ihren Erinnerungen einen Hinweis auf die Täter zu finden. War ihr etwas aufgefallen? Hatten sich Gäste auffällig benommen? Der Professor hatte von religiösen Fanatikern gesprochen, aber Saskia war nur einer Menge feierlustiger Mitteleuropäer begegnet. Sie erinnerte sich an nichts Ungewöhnliches, abgesehen von ihrer kleinen Prügelei und dem Maitre.
Der Fahrstuhl kam zum Stehen, die Türen öffneten sich, und Saskia ging mit festen Schritten durch den kurzen Gang zur Haustür.
Zwei der Neonröhren flackerten und weckten sofort die Erinnerungen an den Gang vor der Kammer, in der sie vor wenigen Stunden nackt und blutverschmiert erwacht war. Sie sah Patricks Kopf vor sich auf dem Flurboden, die Augen aufgerissen, das Gesicht von grässlicher Angst verzerrt, schlimmer als ihr eigenes auf der verspiegelten Oberfläche der Fechtmaske des Maitre. Saskia blieb stehen. Der Kopf auf dem Boden vor ihr sah so echt aus! Sie zitterte und konnte sich nicht rühren, während sie immer schneller atmete ... und sogar das Blut roch! Dann kam ein fingerdickes Rinnsal aus dem Stumpf hervorgekrochen und rann auf sie zu ...
Sie musste die Augen schließen, hastete blind bis zum Eingang und öffnete die Lider erst, als sie die Klinke in der Hand spürte. Rasch trat sie an die frische Luft.
Wie sie nach Hause gekommen war, wusste Saskia nicht mehr. Sie hatte blutbesudelte fremde Sachen getragen; ihren Schlüsselbund sowie das Handy hatte sie in den verkrampften Fingern gehalten, als sie vor der Haustür stand und wie aus einer Trance erwachte. Der Professor war ihr als Erster eingefallen. Nach
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