Blutprinz (German Edition)
Geräusche eines vorbeifahrenden Wagens war nichts weiter zu hören. Bestimmt nur irgendwelche Nachtschwärmer, die sich einen schlechten Scherz erlaubten. Sie legte auf, wandte sich um und erstarrte vor Schreck, als sie die in Lumpen gehüllte Gestalt erblickte, die plötzlich hinter ihr stand. Ein Ekel erregender Gestank schlug ihr entgegen. Die Kreatur bewegte nur die Hände. Knochige Finger umfassten den Stoff der Kapuze und schoben diese langsam zurück. Rosiges Fleisch kam zum Vorschein, das ein entstelltes Gesicht formte. Eine Fratze, die in ihren Umrissen einem Menschen glich, doch zugleich ein Hund oder Wolf zu sein schien, dem man das Fell abgezogen hatte. Zwei dunkle, kleine Augen, eingefasst von runzeligen Fleischwülsten, funkelten Natalie an und das lippenlose Maul grinste. Es war die Kreatur, die sie auf dem Balkon gesehen hatte und deren Existenz sie in den letzten Tagen aus ihrer Erinnerung verdrängt hatte. Endlos erscheinende Sekunden starrte sie die Bestie an und wagte kaum zu atmen. War es wieder nur eine Vision? Natalie dachte an Andrés Besorgnis, als er jeden Millimeter des Balkons abgesucht hatte. Sie musste weg von hier.
Vorsichtig wich sie einen Schritt zurück, beobachtete, wie die Kreatur reglos stehen blieb. Die Wohnungstür lag nicht weit hinter Natalie, vielleicht drei oder vier Schritte. Sie machte noch einen kleinen Schritt rückwärts, während die Bestie wie festgefroren an ihrem Platz verweilte. Natürlich war die Tür abgeschlossen und sie wusste nicht, ob die Zeit ausreichen würde, um aufzuschließen und auf den Korridor zu rennen. Die Gleichgültigkeit, die dieses Wesen ausstrahlte, machte es unberechenbar. Doch Natalie sah im Moment keinen anderen Ausweg. Mit einer schnellen Bewegung wandte sie sich der Tür zu und rannte los.
Ihr Fluchtversuch wurde jäh abgestoppt, als die Kreatur plötzlich wieder vor ihr stand und den Weg zur Tür blockierte. Sie entging dem Zusammenstoß in letzter Sekunde, indem sie ins Wohnzimmer abbog und so eine neue Fluchtroute durch ihre Wohnung wählte. Sie kam auch hier nicht weit, denn wieder stand die Bestie auf einmal vor ihr.
„Du kannst nicht fliehen“, schallte eine Stimme in Natalies Kopf.
Ein Gefühl von prickelnder Kälte flutete ihren Körper, kroch bis zu den Fingerspitzen. Abgelenkt von den Worten der Schreckensgestalt übersah Natalie die Couch und stolperte über die Seitenpolsterung, schlug einen Salto über das Möbelstück und landete mit dem Rücken auf dem Beistelltisch. Der Tisch gab unter der Wucht des Aufpralls nach und zerbrach. Winzige Holzsplitter bohrten sich in Natalies Rücken, trieben ihr Tränen in die Augen. Sie verdrängte den Schmerz, rang nach Luft und kroch auf allen vieren weiter, wusste jedoch nicht, wohin sie fliehen konnte und vor allem wie.
Verzweiflung breitete sich in ihr aus, doch so einfach wollte sie sich der Bestie nicht ergeben. Wut und Trotz verdrängten die Panik. Sie stemmte sich hoch, hechtete an der Kreatur vorbei und stürmte ins Schlafzimmer.Die Tür fiel ins Schloss, doch das beruhigte sie nicht, denn mittlerweile wusste sie, dass keine Tür dieses Wesen aufhalten konnte. Panisch atmend betrachtete sie die offenstehende Balkontür. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, die Fassade hinunter zu klettern und das letzte Stück zu springen. Doch bei ihren Kletterkünsten könnte sie genauso gut gleich springen, das Ergebnis wäre dasselbe.
Sie rannte zur zweiten Schlafzimmertür, die zurück auf den Gang führte. Doch ihr Verfolger wartete bereits auf sie. Sie stolperte, rutschte über den glatten Boden stieß gegen die Beine der Bestie.
„Wohin willst du?“, keuchte die Stimme in ihrem Kopf.
Natalie kroch rückwärts, doch auch dieser Fluchtversuch wurde vereitelt, als die Kreatur nach einem ihrer Unterschenkel griff. Sie schrie und versuchte, mit aller Kraft nach den Pranken zu treten, an deren astartigen Fingern lange, gebogene Nägel saßen, wie die Klauen eines Raptors. Allmählich gewannen Angst und Verzweiflung die Oberhand. Ihr Tritt traf den Angreifer, doch er zeigte keine Wirkung. Stattdessen schlossen sich Finger um ihren Knöchel, umklammerten ihren Fuß so fest wie Zangen. Als die Krallen in die Haut eindrangen und Blut zu Boden tropfte, schrie sie auf. Wieder trat sie mit dem noch freien Fuß nach dem Monster. Die Bestie zuckte tatsächlich zurück und ließ den Fuß los. Sogleich zog sich Natalie nach hinten, rutschte jedoch mit den Füßen auf dem Boden weg und
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