Blutrausch
nicht mit im Spiel hat, der keine Gefälligkeiten verlangt, wenn er mir Informationen gibt, der nicht darauf lauern wird, mir bei jeder Gelegenheit in den Rücken zu fallen. Aber früher oder später wird auch er seine Rechnung präsentieren. Und egal, was er verlangt, ich werde bezahlen müssen.
Also stopfe ich die kümmerlichen Überreste meines Notvorrats in die Tasche, stecke mein Klappmesser in einen Stiefel, die .32er in den Hosenbund und ziehe los, um Daniel zu besuchen.
– Simon.
– Ist Daniel da?
– Natürlich. Wo sollte er sonst sein?
– Kann ich mit ihm reden?
– Selbstverständlich, Simon. Er freut sich bestimmt, dich zu sehen.
– Nenn mich nicht Simon.
– Sondern?
– Joe.
Der dürre Enklavenjünger mustert mich von oben bis unten.
– Joe. Das passt nicht zu dir.
– Egal. Tu’s einfach, ja?
– Natürlich, Joe.
Er schenkt mir jenes bedeutsame Lächeln, das diese Typen immer parat haben, und führt mich hinein. Wir überqueren den Betonboden der Lagerhalle, während sich die Schiebetür hinter uns schließt. Meine Augen passen sich der fast vollständigen Dunkelheit an, und nach und nach erscheint die Enklave vor mir. Zwei Reihen von etwa jeweils fünfzig ausgemergelten, krankhaft blassen Männern und Frauen in weißer Kleidung sitzen sich auf dem Boden einander gegenüber. Vor jedem steht irgendein Behälter: von einem Fingerhut über eine gesprungene Kaffeetasse bis zu einem Weinbecher aus Zinn ist alles vertreten. Zwei der Enklavenjünger arbeiten sich langsam durch die Reihen vor und füllen die Gefäße mit Blut aus einem Messbecher beziehungsweise einem Eisteekrug mit einer verblassten, grinsenden Sonne darauf. Jeder erhält nur eine winzige Menge Blut, manche nicht mehr als einen Teelöffel, andere etwas mehr. Manche heben die Hand und wollen gar kein Blut. Obwohl sie genau wissen, dass das, was sie hier bekommen, für eine ganze Woche reichen muss. Fütterungszeit im Irrenhaus.
Die verdammten Spinner hier sitzen den lieben langen Tag im Dunkeln, Fasten, Meditieren und trainieren ihre abgefahrenen Kampfsporttechniken. Und Daniel, Herr und Meister der durchgeknallten Truppe, denkt, ich würde zu ihnen gehören. Er sagt, es sei meine wahre Natur. Aber da hat er sich geschnitten. Sich zu kasteien und das Vyrus an den Rand des Verhungerns zu treiben, ist nicht meine Vorstellung von Spaß. Ich war schon mal an diesem Punkt. Ich stand am Rande des Abgrunds und weiß, welche Energiereserven das Vyrus mobilisieren kann, um seinen Wirt zu einer letzten Anstrengung aufzupeitschen. Und obwohl ich diese Kraft gespürt habe und weiß, warum diese Idioten danach streben, genau dorthin zu kommen, will ich damit nichts zu tun haben. Man muss schon ein echt krankes Arschloch sein, um die ganze Zeit über so zu leben. Denn nichts anderes tun sie. Sie schweben ständig am Rande des Hungertods und versuchen, die perfekte Balance zu finden. Sie lassen zu, dass das Vyrus sie ganz langsam auffrisst. Sie legen sich mit dem Tod an, in der Hoffnung, dass einer von ihnen ihn überwindet. Dass einer von ihnen verschwindet und gleichzeitig als spirituelle Entität überlebt. Dass er vom Vyrus, das sie für eine transzendente Kraft halten, verwandelt wird, damit er die anderen anführen kann. Dann werden sie die Straßen überrennen und alle anderen konvertieren. Oder töten, je nachdem.
Kranker Scheiß, an den ich nicht glaube. Oder zumindest nicht glauben wollte, bis Daniel mir dann noch viel schlimmere Sachen offenbart hat. Mir von diesem Ding erzählt hat. Dem Geist. Jetzt bin ich mir nicht mehr ganz so sicher, woran ich glauben soll. Trotzdem, die Enklave ist nichts für mich, auch wenn Daniel mir das ständig einzureden versucht.
– Simon. Schau einer an. So gesund und wohlgenährt. Du strotzt ja förmlich vor Lebenskraft.
– Hallo, Daniel. Siehst selbst nicht schlecht aus.
Er lacht. Seine skelettartige Gestalt löst sich vom Boden der kleinen Zelle unterm Dach der Lagerhalle. Er nimmt meine Hand. Ich spüre die Hitze, die von seinen Fingern und seiner Handfläche ausgeht. Jeder, der das Vyrus in sich trägt, hat eine erhöhte Temperatur. Daniel aber scheint innerlich zu glühen.
– Ja. Voller Lebenskraft.
– Danke.
Er lässt meine Hand los.
– Das war kein Kompliment. Im Gegenteil.
– Oh, ist mir entgangen. Sorry.
– Tja, Menschen durch subtile Anspielungen auf den rechten Weg zu bringen, war noch nie meine Stärke. Auch bei meinen eigenen Kindern nicht. Wusstest du, dass
Weitere Kostenlose Bücher