Blutrausch

hat. Dass er versagen wird. Dass er einen Nachfolger braucht.
    Tja. Scheiß drauf. Das ist wirklich nicht mein verfluchtes Problem.
    Ich schiebe die Tür auf, gehe in die Nacht hinaus und lasse den Gestank gekochter Knochen hinter mir zurück.
     
    Die Linie A. So schlau bin ich auch. Und wie es aussieht, bleibt mir tatsächlich keine andere Möglichkeit, obwohl ich davon alles andere als begeistert bin.
    Ich stehe vor der Lagerhalle der Enklave auf der Little West 12th, und meine Gedanken kreisen um die Linie A. Im Augenblick befinde ich mich auf Niemandsland. Die Gegend hier beansprucht niemand für sich. Zu nahe an der Enklave. Ich könnte an der 14th in die Linie A steigen, aber genau dort verläuft die Südgrenze des Koalitionsgebiets, und mit Sicherheit sind dort auch Späher postiert. Besser, ich bleibe im Niemandsland und nehme die Haltestelle an der 4th. Wenn ich erst mal in der A sitze, haben sie weiß Gott noch genug Gelegenheit, mich aufzuspüren.
    Die Koalition hat es gar nicht gerne, wenn jemand unter ihrem Territorium spazieren fährt. Die großen Haltestellen wie Grand Central, Penn Station, Times Square oder Columbus Circle sind tabu. Sobald du die Station verlässt, bist du so gut wie tot. Sie haben Späher, die von ihren Wohnungen aus die Eingänge zur U-Bahn bewachen. Faule Säcke, die die ganze Nacht nichts anderes zu tun haben, als aus dem Fenster zu starren, Schnappschüsse mit ihren Teleobjektiven zu machen oder die Bänder ihrer Überwachungskameras zu wechseln. Vielleicht blättern sie ab und zu mal die Fahndungskartei nach einer Visage durch, die ihnen bekannt vorkommt. Kost und Logis übernimmt natürlich die Koalition. Einmal in der Woche schickt sie einen ihrer Männer vorbei, der Filme, Videobänder und Notizen abholt und ein paar Beutel frisches Blut dalässt. Selbst die kleineren Haltestellen werden überwacht. Vielleicht nicht alle, aber man kann sich nie sicher sein, welche. Ebenso wenig wie man weiß, welche Züge ihre Männer auf illegale Eindringlinge hin kontrollieren. Wenn ich Ecke West und 4th einsteige und den Expresszug bis zur 145th nehme, muss ich mir um die Späher keine Sorgen machen. Allerdings könnte in jedem Zug, der zwischen der 14th und der 110th verkehrt, ein Killer der Koalition sitzen. Woher ich das weiß? Weil die Koalition will, dass jeder es weiß. Es ist ihre Art zu sagen: Betreten Verboten – Zuwiderhandlung wird bestraft. Und die Späher und Patrouillen, über die alle Bescheid wissen, sind vermutlich nur die Spitze des Eisbergs.
    Die Linie A. Danke für den Tipp.
    Um Zeit zu sparen, nehme ich ein Taxi bis zur West 4th. Ich denke kurz darüber nach, den Fahrer wenden und direkt nach Uptown fahren zu lassen, aber das wäre wohl weit gefährlicher als die U-Bahn. Im Zug muss ich mir lediglich über die Patrouillen Gedanken machen. Im Taxi dagegen ist das Risiko, im Feierabendverkehr vom Gehsteig oder einem anderen Auto aus entdeckt zu werden, weitaus höher. Also werde ich wohl den guten alten Duke-Ellington-Express nehmen.
    Ich steige an der Kreuzung 4th und Sixth aus. Es ist dunkel und kalt, aber auf dem Spielfeld hinter dem Maschendrahtzaun brennt Licht. Ein halbes Dutzend Typen spielt Basketball. Ich bleibe stehen, zünde mir eine Zigarette an und beobachte sie. Obwohl ich keine Zeit zu verlieren habe, ist es eine verdammt lange Fahrt, und in der U-Bahn darf ich nicht rauchen. Eine kleine Menschenmenge steht vor dem hohen Zaun und beobachtet die Streetballer beim Angeben. Sie werfen sich blind Pässe zu oder fangen den Ball im Sprung auf, um ihn dann im Korb zu versenken. Ich drücke meine Zigarette aus und zünde mir eine neue an. Selbst mit dem Expresszug ist es höllisch weit von der 4th zur 145th. Da reicht das Nikotin einer einzigen Zigarette nicht aus.
    Ich bin hier im Niemandsland, kann mir also mit dem Rauchen Zeit lasen. Hier lässt sich keiner blicken, weder um zu jagen noch um Geschäfte zu machen. Niemand will riskieren, die Enklave irgendwie zu verärgern. Denn wenn die Spinner richtig angepisst sind, kommen sie und fressen dein verdammtes Knochenmark.
    Knochenmark?
    Hat das nicht irgendwie mit Blut zu tun? Müssten sie nicht todkrank werden, wenn sie das Knochenmark eines anderen Vampyrs essen? Selbst wenn man die verdammten Knochen kocht, wer weiß, ob das Vyrus dadurch verschwindet? Merkwürdig. Was hat Daniel noch mal gesagt? Schon wieder. Was zum Teufel sollte das denn heißen?
    Ja, okay, ich muss in Gedanken gewesen sein. Und, ja,