Blutrausch
Grenzen gezeigt, hätte er immer so weitergemacht. So sind diese verzogenen Bürschchen.
– Also, was ist das?
Die Finger von Daniels rechter Hand gleiten über den halbvollen Beutel. Er fährt mit einer Fingerspitze über einen Blutstropfen, der sich an der Ventilöffnung gebildet hat.
– Anathema. Genau, wie Maureen es dir gesagt hat.
– Maureen?
Er verreibt den Blutstropfen zwischen Daumen und Zeigefinger.
– Verzeihung. Dir hat sie sich wahrscheinlich als Mrs. Vandewater vorgestellt.
Während ich die ganze Geschichte erzählt habe, ist mein Hintern eingeschlafen. Ich verlagere mein Gewicht von einer Seite auf die andere.
– Okay, es ist Anathema. Aber stimmt das, was sie mir gesagt hat? Über die Visionen?
– Ach, die Visionen.
Er hält sich die Finger unter die Nase, schnuppert daran, verzieht das Gesicht und wischt sie am Boden ab.
– In diesem Zeug nicht. Aber in frischem Anathema?
Er zuckt mit den Schultern.
– Natürlich gibt es die Visionen.
Ich betrachte den Beutel auf dem Boden.
– Sind sie real?
– Natürlich sind sie real, Simon. Es sind Visionen.
– Aber bedeuten sie etwas?
Er kratzt sich den Kopf.
– Es ist sehr schwierig für mich, darauf zu antworten. Sind sie real? Bedeuten sie etwas? Eine Vision ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Wie soll man erklären, was sie bedeuten oder nicht?
– Verdammte Scheiße, Daniel. Ich meine, haben sie irgendwas mit dem Vyrus zu tun? Kann man dadurch etwas erfahren über...?
– Ja?
– Über uns. Über die ganze Scheiße hier? Ich...
Er lächelt.
– Simon, ich bin ja fast geneigt zu glauben, dass du heute Abend auf der Suche nach Weisheit bist. Ausgerechnet du. Ich finde das sehr erfrischend. Ein Hoffnungsschimmer.
Ich stehe auf.
– Leck mich.
Sein Lächeln wird noch breiter.
– Also gut, fangen wir von vorne an.
Er streckt die Hand aus. Ich nehme sie, und er richtet sich auf. Ohne meine Hilfe.
Er nimmt mich am Arm, führt mich aus seiner Zelle und zur Treppe.
– Mir ist klar, wonach du fragst. Wirklich. Aber du musst eins wissen. Für jede Frage, die du mir stellst, gibt es eine unbegrenzte Anzahl von Antworten. Und es gibt eine unendliche Anzahl von Lektionen zu lernen.
Er bleibt vor der Treppe stehen.
– Aber für mich persönlich waren die Anathema-Visionen weder besonders erhellend noch nützlich. Unterhaltsam. Angenehm. Entspannend. Aber letzten Endes nichtssagend und leer.
Ich sehe ihn an.
– Du?
Er blickt zu Boden und zuckt mit den Schultern.
– Wir waren alle mal jung, oder nicht?
Dann schaut er wieder mich an.
– Damals hat das jeder gemacht.
– Sie hat gesagt, dass man es nie wieder loswird. Süchtig wird.
Er lässt meinen Arm los.
– Simon, ich bitte dich, denk nach. Nur ein einziges Mal. Eine Abhängigkeit. Im Blut. Im Vyrus. Wie glaubst du, wird man mit so einer Sache am besten fertig?
Darüber brauche ich nicht groß nachdenken. Ich weiß es. Ich hab’s schon mal durchgemacht.
– Abstinenz.
Er nickt.
– Abstinenz. Man muss es aushungern. Vernichten.
Er hebt einen Finger.
– Und was folgt daraus?
– Ich...
– Denk nach.
– Nein. Ich will nicht. Sag’s mir einfach. Ich bin müde und will nach Hause. Also sag’s mir einfach, verflucht noch mal. Ich hab dich besucht, genau, wie du’s verlangt hast. Also kannst du nicht einfach...
Er streckt beide Arme aus und hält mir die Handflächen hin.
– Schon gut, schon gut. Du bist müde. Nur eins noch.
Er steigt die Treppe hinunter. Ich folge ihm.
– Simon, das Vyrus ist etwas Lebendiges, Veränderliches. Es ist von Person zu Person verschieden. Erinnere dich an den Jungen, den du gesehen hast. Der gestorben ist, als sie versucht haben, ihn zu infizieren. Nicht er hat das Vyrus abgestoßen, sondern das Vyrus ihn . Weil es nicht für ihn bestimmt war. Es war nicht sein Vyrus. Jeder von uns muss dem Vyrus etwas darbringen, und in jedem von uns verändert es sich, erhält immer wieder aufs Neue seine Einzigartigkeit.
Am Fuß der Treppe bleibt er stehen, sieht mich an und tippt mit einem Finger gegen meine Brust.
– Das Vyrus in dir.
Er deutet auf sich.
– Ist nicht das Vyrus in mir.
Wir gehen in Richtung Ausgang.
– Anathema ist das Vyrus in frisch infiziertem Blut. Verzweifelter als sonst versucht es, Wurzeln zu schlagen. Es kann eine gewisse Zeit außerhalb des Körpers überleben. Aber der Körper, nach dem es verlangt, ist nicht mehr. Er wurde getötet, als aus ihm das Anathema gewonnen wurde. Wird das
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