Blutrose
englischen Mädchen. Ich kann sie hier nirgendwo finden, und in London ist sie auch nicht angekommen. Der Steward beim Check-in wollte mir nicht weiterhelfen.«
»Ich kann Ihnen helfen.« Die Beamtin sah sich um. Im Terminal war niemand mehr. »Kommen Sie mit.«
Die Frau führte Clare durch den nicht öffentlichen Bereich an eine schwere Eisentür. Sie drehte am Kombinationsschloss, der Safe schwang auf, und Clare blickte auf eine unaufgeräumte Aladdinshöhle voller Schachteln mit kleinen rechteckigen Einreiseabschnitten.
»Das müssen ja Tausende sein«, sagte Clare.
»O ja, das stimmt«, strahlte die Zollbeamtin. »Falls Ihre Lady hier ist, werden wir sie finden.« Sie nahm eine Schachtel auf und schnitt das Siegel auf. Ganz oben lag ein Bündel Formulare vom Vortag. Sie reichte Clare die Hälfte davon. »Wie heißt sie denn?«, fragte sie.
»Mara Thomson«, sagte Clare. »Dünn, braune Haut, jede Menge schwarzes ungebändigtes Haar.«
»Gesehen habe ich sie nicht«, sagte die Frau, die bereits in den Formularen blätterte. »Aber sie könnte auch von einem meiner Kollegen abgefertigt worden sein.«
Sie setzten sich auf den Boden, sahen die Formulare durch
und bemühten sich, die krakeligen Hieroglyphen der gestern abgereisten Passagiere zu entziffern. Die meisten hatten »Ferien« als »Reisegrund« angekreuzt, nur wenige »geschäftlich«.
Clare studierte zum zweiten Mal das letzte Formular und spürte, wie sich die Angst zum zweiten Mal wie ein Eisklotz in ihrem Magen breit machte. »Ich kann sie nicht finden«, sagte sie. »Könnte sie auch durchgegangen sein, ohne ihr Formular abgegeben zu haben?«
»Auf keinen Fall«, entrüstete sich die Frau. »Wir sind da ganz korrekt. Vielleicht hat sie ihre Pläne geändert, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Junge Leute sind so.«
Clare dankte der Frau und ging zu ihrem Auto zurück. Eine Weile blieb sie daneben stehen und schaute auf den Horizont. Glühend heiße Schwaden verwischten die dünne Trennlinie zwischen Sand und Himmel. Eine Ostwindböe blies Sand in ihre Augen. Zum ersten Mal, seit sie in Walvis Bay angekommen war, spürte sie die unerbittliche Hitze der Wüste.
45
»Was ist?« Ein trübes Männerauge blinzelte durch den Türspalt. Die schwere Kette spannte schon nach wenigen Zentimetern.
»Polizei«, riskierte Clare ihr Glück. »Ich habe eine Frage an Sie.«
Ein Mann mit scharfen Gesichtszügen hängte die Türkette aus. Nicolai, in einen schmutzigen Sarong gehüllt, war ein ebenso unattraktiver Anblick wie seine verdreckte Wohnung über dem Blauen Engel.
»Kommen Sie mit in die Küche. Ich brauche einen Kaffee.«
Clare folgte ihm in ein düsteres Loch. In der Spüle stand der Abwasch von einer ganzen Woche.
»Ich kenne Sie.« Er setzte sich an den Tisch. »Sie waren neulich abends in der Bar. Als Gretchen getanzt hat.« Er lächelte und entblößte dabei schiefe und vergilbte Zähne.
»Genau.« Clare setzte sich ebenfalls.
»Also, Miss …«
»Dr. Hart«, half Clare ihm weiter.
»Also, Doc«, setzte Nicolai gedehnt an, »wie komme ich zu der Ehre Ihres Besuches?«
»Ich bin auf der Suche nach Mara Thomson.«
»Und wieso kommen Sie zu mir?« Seine Stimme hob sich abweisend.
»Ich wollte mit ihr sprechen. Ich habe gehört, sie sei vorgestern Abend im Blauen Engel gewesen.«
Aus der Richtung, in der Clare das Bad vermutete, war Wasserrauschen zu hören. Es verstummte, und die Stille in der ranzig riechenden Küche wurde noch klebriger. »Wo ist sie?«, fragte sie.
»Fuck, woher soll ich das wissen?«
»Haben Sie sie letzte Nacht gesehen?«
»Nein.«
»Und in der Nacht davor?«
»Ja. Was soll das? Sie ist kein kleines Mädchen mehr.«
»Mit wem war sie da?«
»Mit Juan Carlos, ihrem Freund. Arbeitet auf der Alhantra. Spanier. Hübscher Junge. Ich dachte erst, er wäre anders gepolt, bis er mit Mara bei uns aufschlug. Nicht mein Typ. Englische Jungfrauen«, ergänzte Nicolai. »Hier werden Sie das Mädchen bestimmt nicht finden.«
Nicolai lehnte sich zurück, und sein Blick glitt von Clare weg zur Tür hin. »Das ist schon eher mein Typ«, sagte er.
Eine Frau mit üppigen Rundungen kam in die Küche geschlendert. Sie musterte Clare gelangweilt, schenkte sich eine
Tasse Kaffee ein und schlenderte wieder hinaus. Clare fragte sich, ob die Frau von Sabina wusste.
»Mein Zimmermädchen«, meinte Nicolai und grinste. »Wir waren gerade beim Bettenmachen.«
»Wann ist Mara aus dem Blauen Engel weggegangen?«
»Irgendwann nach
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