Blutrose
einer uralten Gesteinsfalte entlang, um sich dann in den Salzfeldern am Scheitelpunkt der Lagune zu verlieren.
»Wie wurde er gefunden?«, fragte Clare.
»Aufgrund eines anonymen Tipps«, sagte Tamar. »Am Mittwoch vor zwei Wochen. Der Anruf landete in der Zentrale, die hat wiederum Elias benachrichtigt. Er ist rausgefahren und hat sich umgesehen, bis er die Leiche fand.«
»Weiß man, wer angerufen hat?«, fragte Clare.
»Die Kollegin in der Zentrale meinte, es sei eine Ausländerin gewesen«, erklärte ihr Karamata. »Aber die Namibier sprechen mehr englische Dialekte, als ich zählen kann.«
»Und eine Knabenstimme wird oft mit einer Frauenstimme verwechselt«, fügte Clare hinzu. »Wer außer einem anderen obdachlosen Kind könnte ihn da draußen entdeckt haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Kinder gern ins Visier der Polizei geraten möchten.«
»Nein, das möchten sie nicht. Aber sie haben Todesangst. Alle, denen das überhaupt möglich ist, sind zu den Überresten ihrer Familien heimgekehrt.«
»Nicanor Jones hatte keine Familie, so wie es aussieht.« Clare studierte wieder seine Akte. »Wer ist der letzte Junge?«
»Fritz Woestyn. Er wurde vor drei Wochen gefunden, am Samstag.« Tamar reichte ihr ein Bündel Fotos.
»Das Samstagskind«, zitierte Clare. »Arbeitet hart im Leben.«
»Sein Name, Woestyn, bedeutet ›Wüste‹«, erläuterte Tamar. »Und genau dort wurde er von einigen städtischen Arbeitern gefunden, die eine Pipeline inspizieren mussten.«
»An einem Samstag?«, fragte Clare ungläubig.
»Wasser ist hier kostbarer als Gold. Der Vorarbeiter hat ihn identifiziert. Er hatte ihn früher schon beim Müllfleddern beobachtet.«
»Eigenartig, dass überhaupt noch etwas zu finden war«, meinte Karamata. »Eine Hyäne, sogar die Schakale machen kurzen Prozess mit allem, was tot ist.« Fritz Woestyn starrte Clare vom Obduktionsfoto an. Ihr Blick wanderte über die kleinen Schachteln mit den Asservaten. In jeder lagen die Überreste eines Jungenlebens – Schuhe, ein paar blutverschmierte Anziehsachen, ein Notizzettel –, wodurch die Kartons wie kleine, morbide Schreine wirkten.
»Ein leichtes Ziel, so ein Straßenkind; es gibt so viele Motive, sie umzubringen, und niemand ist da, der sie vermisst melden würde.« Clare ging vor den Schachteln auf und ab. »Sie glauben also nicht, dass es sich um eine Art inoffizieller Säuberungsaktion handeln könnte? Draußen an der Mülldeponie, wo zahllose Straßenkinder im Müll wühlen. Auch an der Schule …«, sie sah in Tamars Notizen nach, »wo allem Anschein nach diese Mara Thomson eine Fußballmannschaft für die Straßenkinder aufgezogen hat. Das könnte erklären, warum der Mörder den Wunsch hat, die Toten zur Schau zu stellen: dass die Leichen als Drohung wirken sollen. So war das bei den Straßenkindern in Rio.«
»Der Gedanke ist mir natürlich auch schon gekommen«, gestand Tamar. »Aber bei den Morden in Rio wurden immer zwei oder drei Kinder gleichzeitig getötet, Kinder, die in einer Stadt von zehn Millionen in den Hauseingängen schliefen. In einer Stadt mit vierzigtausend Einwohnern kommt man mit so einer Aktion nicht lange unbemerkt durch.«
»Haben Sie nachgeprüft, ob es in anderen Hafenstädten ähnliche Muster gab?«, fragte Clare.
»Allerdings. Auf keiner der Datenbanken, auf die ich Zugriff habe, war etwas zu finden.« Tamar sah sie an. »Rita Mkhize hat für mich auch in Südafrika nachgeforscht. Nichts.«
»Traurig, brutal und viel zu kurz, diese Leben«, fasste Clare zusammen. »Wenn der Mörder die Stadt nicht verlassen hat, müsste in nicht allzu langer Zeit die nächste Leiche auftauchen.«
»Ich muss nach Hause.« Tamar reckte ihre Arme nach oben, um ihre Schultermuskeln zu entspannen. »Ich kann Sie an Ihrem Bungalow absetzen.«
Clare griff nach ihrer Tasche und den drei Akten. »Ich arbeite die heute Abend noch einmal durch.«
Tamar fuhr an dem menschenleeren Hafen entlang. Er war mit sechs Meter hohem Stacheldraht von der Straße abgezäunt. Die Stacheln waren mit verdreckten Plastiktüten geschmückt: Afrikas Nationalblumen.
Tamar hielt vor einer abgeschiedenen Reihe von steinernen Bungalows, die allesamt fest verschlossen waren. Unter den Palmen und in den schmalen Durchgängen lagen tiefe Schatten. »Lagoon-Side Cottages« stand auf dem Schild, das an den ausgebleichten Walrippen über dem Eingang baumelte.
»An den wenigen Tagen, an denen sich der Nebel verzieht, hat man hier einen
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