Blutrose
sehen.«
10
»Ich hole Elias und van Wyk«, sagte Tamar, als sie und Clare wieder auf dem Revier waren. »Dann können wir mit dem Schaubild beginnen.«
Tamar, Clare und Karamata machten sich auf den Weg zum Sondereinsatzraum. Offenkundig hatte van Wyk Wichtigeres zu erledigen, denn er schlug Tamars Einladung aus, ohne auch nur von seinem Computerbildschirm aufzusehen.
Auf dem Tapeziertisch in der Mitte des Raums lagen mehrere Landkarten und Stadtpläne sowie ein akkurater Stapel von Obduktionsfotos neben den drei Mordakten, farbigem Papier, Scheren, blauer Fixierknete, Stecknadeln und Markerstiften.
»Wir werden rückwärts vorgehen«, sagte Tamar. »Fangen
wir mit Kaiser Apollis an.« Sie schrieb groß und rot seinen Namen an ein Flipchart.
»Ein Montagskind …« Clare heftete die Fotos des auf der Schaukel sitzenden Jungen an.
»… das Antlitz fein«, zitierte Tamar das alte englische Kinderlied. »Wir müssen die Autopsie abwarten, bevor wir ihn abschließend einschätzen können.«
»Es gibt eine Polizeiakte über ihn.« Clare sah ihre Dokumente durch.
»Er wurde vor etwa einem Monat auf einem Privatgelände erwischt«, sagte Karamata.
»Er wurde geschlagen?«, fragte Clare, während sie den handgeschriebenen Bericht überflog.
»Wenn er musste, hat er auf den Docks angeschafft«, erläuterte Karamata. »Van Wyk hat den Fall bearbeitet. Die freiwillige Lehrerin, Mara Thomson, beschuldigte van Wyk daraufhin, er habe Kaiser geschlagen, es können aber genauso gut die Russen von den alten Sowjetschiffen gewesen sein.«
»Was machen die denn hier?«, fragte Clare.
»Diese Schiffe rosten seit der Perestroika vor sich hin«, antwortete Karamata. »Sie legen nicht an, weil sie keine Hafengebühren zahlen wollen. Und heimkehren können sie auch nicht, weil der Staat, dem sie gehören, unter Gorbatschow aufgelöst wurde.«
»Diese Männer mögen es gern grob«, fuhr Tamar fort. »Und sie zahlen, aber man muss sehr verzweifelt sein, wenn man da rausfährt. Die Mädchen aus den Bars lassen sich dort nicht mehr blicken, seit eine von ihnen nur zum Spaß zusammengeschlagen und ins Wasser geworfen wurde. Ein Mitglied aus der Besatzung der Alhantra hat sie rausgezogen.«
»Hat sie noch gelebt?«, fragte Clare.
»Gerade noch. Gretchen hatte Glück, dass sie überlebt hat. Sie arbeitete im Blauen Engel , der teuersten Hafenbar. Inzwischen gibt es noch einen neuen Laden in Walvis Bay, den
Gentleman’s Club . Weiß der Himmel, wo das Geld herkommt, aber die hiesigen Politiker und Geschäftsleute streichen es ein, wo es nur geht.«
»Gretchen von Trotha.« Karamata setzte die Geschichte fort. »Ein unglückseliger Nachname. Von Trotha hieß der deutsche General, der vor hundert Jahren den Befehl zur Auslöschung der Herero gab. Nur weil mein Ururgroßvater damals überlebte, kann ich mich glücklich schätzen, heute hier zu sein.«
»Hat sie damals Anzeige erstattet?«, fragte Clare.
»Es ist grundsätzlich nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand in ihrem Metier Anzeige erstattet«, sagte Tamar. »Sie ist wohl gar nicht auf die Idee gekommen. Sie verkauft ihren Körper, seit sie dreizehn ist. Van Wyk hat mir erzählt, dass sie wieder in den Clubs arbeitet.«
»Van Wyk scheint wirklich gut informiert zu sein«, bemerkte Clare und griff nach der zweiten dünnen Akte. »Nicanor Jones.« Sie sah auf das Datum, an dem er gefunden worden war. »Ein Mittwochskind. Voller Leid«, zitierte sie noch einmal das alte Kinderlied und wühlte in den Fotos. Ein augenloses Gesicht starrte sie an, mit einem kleinen, sauber wirkenden Einschussloch im Schädel, das faserige Fleisch von dem schneeweißen Knochen darunter gelöst.
»Sieht aus, als hätte er sich die Hände verletzt.« Clare deutete auf eine Nahaufnahme seiner Hände. Die Handflächen waren von frisch verheilten Schwielen überzogen.
Tamar zog den Obduktionsbericht aus der Akte. »Über die Schwielen steht nichts Genaueres darin. Der Schuss war wohl die Todesursache und geschah ante mortem.« Sie schüttelte den Kopf. »Nur ein Pathologe kann das Leben als ›vor-dem-Tod‹ definieren.«
»Wenn für jemanden der Tod das Hauptgeschäft ist, liegt das nahe«, lächelte Clare. »Wo wurde er gefunden?«
»Direkt neben der Müllkippe. Sie liegt am Rand des Kuiseb-Canyons. Auf der Luftaufnahme hier kann man sie sehen.« Tamar
zeigte sie ihr. Der ausgetrocknete Fluss mit seinem Saum aus Wüstenpflanzen hielt die nordwärts wandernden Dünen auf. Der Kuiseb wand sich an
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