Blutrose
für morgen alles bereit war. Die Vorstellung, dass die Nacht durchs Fenster hereinspähte, war ihr immer unangenehm gewesen, darum zog sie die Vorhänge zu. Sie nahm ihre Handtasche und die Lebensmittel, die sie während der Mittagspause gekauft hatte. Das schwer verdiente Päckchen aus der Apotheke steckte tief in ihrer Jackentasche. Sie hatte einen beträchtlichen Teil ihres Gehaltes dafür ausgegeben. Sie tastete noch einmal danach, so wie ein ängstlicher Passagier zur Sicherheit immer wieder nach seinem Pass oder Ticket tastet.
Tamar schloss ihr Büro ab. Karamata war mit Clare draußen in der Wüste. Van Wyk war nirgendwo zu sehen. Sie ging weiter zum Einsatzraum, wo noch ein Licht brannte. Über der Lehne von Clares Stuhl hing ein scharlachroter Pashmina. Tamar nahm das wollene Schultertuch hoch und faltete es zusammen, bevor sie sich hinsetzte.
Sie versuchte die Jungen aus Clares Blickwinkel zu sehen: Montagskind. Mittwochskind. Und Samstagskind. Drei vergängliche Schicksale, die praktisch ohne jedes Aufspritzen in den Fluss des Lebens geglitten waren. Und die spurlos versunken wären, wenn Tamar nicht nach ihren geisterhaften Händen gegriffen hätte. Sie streckte ihre eigenen Hände aus und hielt sie vor die Schreibtischlampe. Sie warfen verstörende Schatten über das Arrangement auf dem Tisch. Tamar las Clares Notizen. Erst über die jeweiligen Plätze, die praktisch
spurenfreien Fundorte der Leichen. Das war zu erwarten gewesen, denn die Leichen waren dorthin gebracht und absichtlich zur Schau gestellt worden.
Sie dachte an die Leichen, an die Jungen, die sie früher gewesen waren, und rätselte, wie der Mörder es geschafft hatte, seine Opfer aufzulesen, ohne jeden Zeugen und ohne auch nur eine leise Welle der Angst zu schlagen. Warum hatte in einer so kleinen Stadt stunden-, nein tagelang niemand etwas bemerkt? Es sei denn, der Täter war jemand, der in Wechselschichten arbeitete. Jemand, der überall auftauchen konnte, ohne dass jemand Fragen stellte. Auf den Schiffen, in den Fabriken, in den Bars, etwa ein Lasterfahrer, der Güter hin und her transportierte. Die Silhouette eines Killers, nur der Schatten eines Mannes vor einer kahlen Wand. Bösartig, ständig in Bewegung, gestaltwandlerisch wie eine Marionette aus einem javanischen Wayang-Spiel. Tamar versuchte sich vorzustellen, wie diese Gestalt ungesehen durch den Nebel huschte, und schauderte. Wer? Warum? Und wo? Die Fragen schlugen einen drängenden Takt.
Eine Sirene heulte durchdringend wie ein hungriges Baby. Auch für sie war es Zeit, die nächste Schicht anzutreten.
Tamar sah ihre Nichte an der Mauer vor ihrem Kindergarten lehnen.
»Was tust du hier draußen, Angela?«, fragte sie.
»Die anderen Kinder …« In den Augen des kleinen Mädchens glitzerten Tränen.
Tamar packte das schluchzende Mädchen auf den Rücksitz ihres Autos, schnallte es an und tastete dann noch einmal nach dem Päckchen mit ARVs in ihrer Jackentasche. Schnell fuhr sie heim und spürte, wie ihr leicht ums Herz wurde, als sie feststellte, dass ihr Neffe Tupac schon die Makkaroni gekocht hatte.
Sie hielt Angela auf dem Schoß und zwang unter gutem Zureden fünf, dann sechs, dann sieben langsame, schmerzhafte
Löffel Butternudeln in den Mund des Kindes. Der Junge harrte vor der Küchentür auf der Hintertreppe aus und starrte in die Dunkelheit. Als Tamar der Meinung war, genug gefüttert zu haben, holte sie ihr kostbares Päckchen aus der Tasche und zählte die Pillen auf eine Mickymaus-Untertasse ab, die Tupac bereitgestellt hatte.
Angela presste die Lippen zusammen und schloss die Augen, aber die Tränen sickerten trotzdem unter den Lidern hervor. Ihr war immer so schlecht, wenn sie diese Pillen nahm. Tupac ging neben ihr in die Hocke und nahm ihr schmales braunes Gesicht in beide Hände.
»Bitte, Angela«, sagte er. »Du bist eine Tänzerin. Du schaffst alles.«
Nichts.
»Nimm sie für mich.« Seine Stimme begann zu beben. »Dann erzähle ich dir später auch eine Geschichte.«
Angela öffnete die Augen. »Über Mommy?«
Tupac war schnell. Er steckte ihr eine Tablette zwischen die Zähne und hielt ihr den Mund zu. »Über sie und den Tag, an dem du die erste Tanzstunde hattest«, sagte Tupac.
Angela schluckte. Tamar atmete auf.
»Sehr gut. Nur noch drei.«
»Erzähl mir, was sie über mich gesagt hat.«
Tupac steckte ihr die Pillen nacheinander in den Mund wie Münzen in einen Automaten. Tamar war nicht religiös, aber sie betete inständig, dass
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