Blutrot wie die Wahrheit
uns niemals vorstellen könnten. Es heiÃt, dass sie manchmal aufgewacht sei und feststellte ⦠nun ja, dass sie jemand ganz anderes geworden war. Eine andere Person, mit gänzlich anderer Stimme, anderen Gesten ⦠Und sie sei erst dann wieder sie selbst geworden, wenn jemand sie bei ihrem wahren Namen rief. Von einem solchen Phänomen hatte ich nie zuvor gehört. Sie ist eine wahrhaft begabte Seele.â
Interessiert beugte Will sich vor. âSie hat zwei verschiedene Persönlichkeiten angenommen?â
âJaâ, erwiderte Vera. âAber die zweite Person war ja nicht wirklich sie, sondern die Seele eines Verstorbenen, die nach einer leiblichen Form suchte â einem menschlichen Gastgeber, wenn man so will. Seelen machen derlei nämlich oft. Es fehlt ihnen, einen Körper zu haben und all die Dinge tun zu können, die auch die Lebenden tun.â
Will lehnte sich wieder zurück und sinnierte über das Gehörte nach.
Dr. Foster fing Wills Blick mit skeptischer Miene auf. Ein feines, kaum merkliches Lächeln umspielte seine Lippen.
Will sah es dennoch und erwiderte das Lächeln.
âDas klingt wirklich sehr auÃergewöhnlich, Miss Prattâ, sagte Nell und brach damit endlich ihr Schweigen. âDann haben Sie und Emily sicher den Rest Ihrer vierjährigen Reise mit Madame Blavatsky verbracht?â
âJa. Oh ja. Es war ein ganz herrliches Erlebnis. Ein richtiges Abenteuer.â Vera lächelte hingerissen. âWir sind ihr überallhin gefolgt. Durch den Balkan, nach Griechenland, Ãgypten, Syrien, Russland, Tibet â¦â
âTibet?â, fragte Will. âEs ist verflixt schwer, nach Tibet zu gelangen. Ich weià das, denn ich habe es einmal versucht.â
Die meisten der Gäste, einschlieÃlich seiner Eltern und Brüder, drehten sich nach ihm um und sahen ihn erstaunt an.
âWir hatten uns auch verkleidetâ, erzählte Vera. âDann waren wir zu Gast im Hause des Meisters Kuthumi, wo wir Dinge gesehen und erfahren haben ⦠Dinge, die ich niemals vergessen werde. Mich hat diese Erfahrung grundlegend verändert, und dafür habe ich H.P.B. zu danken.â
Winifred, die wahrscheinlich von dieser langen Unterhaltung über Madame Blavatsky ziemlich gelangweilt war, meinte: âEmily hat ein Reisetagebuch geführt. Mit Aufzeichnungen und Skizzen von all den Orten, die sie besucht haben â den Kirchen und Galerien ⦠Sie hat auch die besonderen Pflanzen und Tiere jeder Gegend gezeichnet, und wie die Leute sich kleideten, womit sie musizierten, welche seltsamen heidnischen Bräuche sie hatten ⦠Du solltest es nachher ruhig mal nach unten bringen und herumzeigen, Emily.â
âMutter, bitteâ, sagte Emily.
âIch würde mir die Zeichnungen sehr gern einmal ansehenâ, meinte Viola. âMiss Sweeney bestimmt auch. Sie ist nämlich selbst eine ganz vorzügliche Künstlerin.â
âWirklich?â, fragte Emily.
âWas ich mir natürlich wirklich wünscheâ, knüpfte Winnie übergangslos an, âist, dass Emily endlich ihr Skizzenbuch beiseitelegt, das Reisen aufgibt und sich ernsthaft mit dem Gedanken befasst, hier heimisch zu werden. Und dass sie vielleicht wieder lernt, sich anständig zu kleiden.â Winnie stieà ein schrilles kleines Kichern aus. âMir scheint, sie hat etwas zuviel Zeit bei unzivilisierten Menschen verbracht.â
âOh, das würde ich so nicht sagen, Maâamâ, meinte Dr. Foster. âEigentlich finde ich, dass sie doch auf sehr einnehmende Weise so aussieht, als würde sie sich rundum wohl fühlen, und daran kann ich nun ganz und gar nichts Unzivilisiertes finden.â
Nell, deren eng geschnürtes Korsett sich anfühlte, als wolle es sie gleich zweiteilen, musste ihm in Gedanken zustimmen und hätte fast alles dafür gegeben, jetzt in weich wallende Seide gekleidet zu sein.
Nun, da Dr. Foster ihre Tochter auf so galante Art verteidigt hatte, stieà Winifred erneut eine kleine Lachsalve aus. Nell hätte ihr am liebsten irgendwas an den Kopf geworfen.
âIch stimme Ihnen völlig zuâ, meinte Will. âSagen Sie, Foster, waren Sie es nicht, der diesen Artikel über Störungen der Lungenfunktion geschrieben hatte, der vor einigen Monaten im New England Journal of Medicine erschienen ist?â
âDas war ich, ganz genau.â
âAusgezeichnet
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