Blutrot wie die Wahrheit
unberührt.â
Nell überkam dieses seltsam schwebende Gefühl, das sie schon manchmal empfunden hatte, wenn sie in Wills Augen blickte â als wäre sie auf einmal schwerelos. Sein Blick ruhte nun auf ihrem Mund. Sie sah, wie sein Hals sich bewegte. Vielleicht hatte er den Kopf ein wenig vorgeneigt, aber vielleicht spielte ihr auch nur ihr so seltsam benommenes, schwindelndes Gefühl einen Streich.
Sie öffnete schon die Lippen, setzte an, um etwas zu sagen, doch die Worte, die sie sagen musste, â ihr blieb gar keine andere Wahl, als sie zu sagen â, wollten ihr nicht über die Lippen kommen.
âLassen Sie mich sofort los!â Die Stimme eines Mannes, jung und mit europäischem Akzent, drang auf einmal aus dem vorderen Teil des Hauses her zu ihnen.
Lautes Gepolter und Klirren folgte, ein schwerer Schlag; Schreie waren zu vernehmen, und es klang, als würde man handgreiflich, bis das wütende Gebrüll des jungen Mannes wieder alles andere übertönte. âFinger weg, ihr Bastarde! Cecilia! Sag ihnen, sie sollen mich sofort loslassen!â
âDas dürfte Felix Brudermann sein.â Nell raffte ihre Röcke zusammen, nicht undankbar über diese unerwartete Ablenkung, und eilte zur Tür.
âFelix wer?â Doch Will war schneller als sie und hielt Nell mit schützender Geste zurück, als er die Tür öffnete.
âEr ist der Verlobte, dem Cecilia zu Harrys Gunsten den Laufpass gegeben hat, nachdem sie herausgefunden hatte, dass er mit Mrs. Kimball ⦠äh ⦠verkehrte.â
âOh, mir scheint, ich bin nicht so ganz auf dem Laufendenâ, meinte Will und spähte den Hauptkorridor hinunter auf das noch immer andauernde Gerangel.
Nell reckte sich neugierig, doch selbst auf Zehenspitzen konnte sie Will nicht über die Schulter schauen. âDeine Ritterlichkeit ist wirklich sehr löblich aber keineswegs nötigâ, lieà sie ihn wissen und schlüpfte geschwind an ihm vorbei. âIch habe Brudermann schlieÃlich nichts getan.â
Entschlossenen Schrittes lief sie den Korridor hinunter in Richtung der von einem riesigen Kronleuchter erhellten Eingangshalle, wo ein paar Männer â Isaac Foster, Martin Hewitt und zwei der rot livrierten Lakaien â den wild um sich schlagenden Eindringling gegen die Haustür gedrängt hatten und ihn nun mit vereinten Kräften festhielten. Harry, die beiden älteren Herren und die Damen sahen aus sicherer Entfernung zu. Ein provenzalischer Konsolentisch lag umgestürzt da, die fragilen vergoldeten Holzbeine zersplittert, der aufgesetzte Spiegel in Scherben auf dem marmornen Boden.
âStörrisches Mädchen â¦â, erklang es mit einem schweren Seufzer hinter ihr, und im Nu war Will bei ihr und schloss seine Hand um ihren Arm, vielleicht eine Spur zu unsanft. âHalte dich besser von ihm fern. Diese Art von Zorn ist maÃlos und kennt weder Sinn noch Verstand.â
Emily lehnte lässig an einer Säule des Bogenganges, der vom Korridor in das Foyer führte, und schwenkte ihr Cognacglas in der Hand. Als sie Nell und Will kommen hörte, drehte sie sich um und lächelte. âDritter Aktâ, verkündete sie.
â Cecilia! Sie ist tot, Himmel noch mal! Das war doch nie was Ernstes.â Felix Jäger Ritter von Brudermann war ein muskulöser junger Mann von recht beachtlicher teutonischer Schönheit. Selbst mit rot angelaufenem Gesicht und tobend vor Wut, sein goldblondes Haar zerzaust und seine Kleider in Unordnung, lieà sich noch immer gut nachvollziehen, weshalb Cecilia sich â mit ihrer Vorliebe für Pracht und Herrlichkeit â von ihm angezogen gefühlt hatte.
âWarum kannst du nicht endlich verschwinden?â, kreischte Cecilia, die Hände zu Fäusten geballt und im luftigen rosa Tüll ihres Kleides vergraben, das Gesicht in Wut und Verwirrung unschön verzogen. âVerschwinde endlich! Was ist eigentlich los mit dir? Warum kommst du immer wieder hierher?â
âIch liebe dich! Und ich will dich heiraten!â, heulte Felix, während er sich weiterhin gegen die Männer zur Wehr setzte, die ihn zu bändigen versuchten.
Harry â die gröÃte Zigarre, die Nell je gesehen hatte, zwischen den Fingern â antwortete an Cecilias Stelle: âTja, sie liebt Sie aber nicht. Warum wahren Sie also nicht einfach den letzten Rest Ihrer Würde und â¦â
âSie
Weitere Kostenlose Bücher