Blutrot wie die Wahrheit
als seltsam tröstlich empfand. âDu zitterstâ, meinte er.
Er rieb ihr Arme und Rücken, hielt sie dann einfach nur fest, sein Atem warm und ein wenig kitzelnd in ihrem Haar, sein Herz schlug dicht an ihrem Ohr. Sie schloss die Augen wieder und genoss das Gefühl â bot es sich ihr doch selten genug â, von einem Paar starker Arme umfangen, beschützt und geborgen zu sein.
Sein Herzschlag beschleunigte sich und mit ihm sein Atem. Nell spürte, wie seine Brust sich immer rascher hob und senkte.
Sie schlug die Augen auf und sah das Zimmer um sich her, sah sie beide hier stehen wie Liebende, wie sie sich in den Armen hielten, wie ihre Herzen im Einklang schlugen. Sie löste sich von Will und sah zu ihm auf.
Er erwiderte ihren Blick, seine Augen von mächtigen Brauen beschattet, seine Miene kaum zu deuten. Seine Hände noch immer an ihrer Taille, trat er einen kleinen Schritt zurück. Als er sie dann ganz freigab, fühlte sie sich mit einmal ganz verlassen.
Geschäftig zupfte sie ihre Röcke zurecht und strich sich über ihr Haar. âWir sollten nun besser â¦â
âJa, man wird sich gewiss schon fragen, was wohl aus uns geworden ist.â
âMr. Pratt nichtâ, meinte sie. âEr weià es ja. Oder zumindest glaubt er, es zu wissen.â
âBesser das, als dass er die Wahrheit vermutet. Es gäbe da nur ein Problem â¦â
Fragend hob Nell den Blick von ihren Röcken und schaute Will an, der sie so kritisch musterte, als betrachte er eine Statue zweifelhafter Provenienz im Museum.
âDu siehst nämlich überhaupt nicht aus wie eine Dame, die soeben geküsst worden ist.â
Mit gespieltem Gleichmut fragte sie: âWie sehen die Damen denn aus, nachdem du sie geküsst hast?â
âDie Haut wird ganz rosig, hier â¦â Er streckte die Hand nach ihr aus und strich sanft mit den Fingerspitzen über ihre Wange, über Kiefer und Kinn, den Hals hinab. âUnd hier.â Seine Berührung auf ihrem Hals zu fühlen, auf ihrem Dekolleté â so leicht, dass sie kaum zu spüren war, und doch so innig â, lieà Nell sich so trunken fühlen, als habe sie gerade eine ganze Flasche Wein geleert.
âUnd natürlich die Lippen.â Mit dem Daumen fuhr er ihr über die Unterlippe, nur einmal, doch es kribbelte köstlich. âSie können durchaus etwas geschwollen aussehen ⦠soweit ich mich erinnere. Das ist ja nun alles schon ein paar Jahre her.â
âDu hast seit Jahren niemanden mehr geküsst?â
âDas überrascht dich.â
âNun ja ⦠ja. Ich hatte angenommen, dass du â¦â Wie nur sagte man so etwas? âIch meine, mir ist schon bewusst, dass während der Jahre, da du Opium geraucht hattest, deine ⦠also, dass du â¦â Zwar hatten sie über dieses recht verfängliche Thema schon zuvor einmal gesprochen, aber nur in sehr ungefähren Umschreibungen. Und das war auch schon eine Weile her.
âDass es mir an sinnlicher Begierde gebrachâ, meinte er trocken.
Nell nickte, sichtlich erleichtert. âIch hatte angenommen, dass nun ⦠nun, da du nicht länger von Opiaten abhängig bist ⦠dass deine natürlichen Bedürfnisse nun zurückgekehrt seien.â
âOh, das sind sie auchâ, erwiderte er mit kurzem bitterem Lachen. âUnd wie. Meine ⦠wie sagtest du so schön â natürlichen Bedürfnisse? â haben sich mit geradezu überwältigender Kraft zurückgemeldet. Es ist fast so, als sei ein Teil von mir fünf Jahre lang tot gewesen und dränge nun mit aller Macht ins Leben zurück, was durchaus erfreulich ist, mich aber auch in einem dauernden Zustand der ⦠Bedürftigkeit belässt â um deine Wendung etwas abzuwandeln. Gelegentlich wird es geradezu ⦠unerträglich.â
âUnd doch hast du in all der Zeit niemanden geküsst? Es sind doch jetzt schon ⦠neun Monate, oder?â
Will sah zu Boden, die Stirn tief gerunzelt, als überlege er, was er darauf erwidern solle. âIch muss gestehen, dass ich, wenn es gar zu unerträglich wurde, hin und wieder ⦠eine bestimmte Sorte Frauen aufgesucht habe. Aber diese Frauen erwarten nicht, geküsst zu werden. Sie sind nur am Inhalt meiner Geldbörse interessiert.â Er sah wieder auf und begegnete ihrem Blick. âUnd auch mein Herz bleibt davon
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