Blutrot
kommt nach dir.«
»Mein Gott. Hoffentlich nicht.«
»Es gibt Schlimmeres. Wie alt bist du eigentlich, Av?«
»Hab ich dich das vielleicht gefragt?«
»Nein.«
»Na also.«
»Dass du eitel bist, hätte ich nicht gedacht.«
»Verdammt, ich bin siebenundsechzig. Im August werde ich achtundsechzig.«
Sie stellte das Foto wieder hin.
»Was ist mit deinen Söhnen?«, fragte sie. »Von ihnen stehen hier gar keine Fotos.«
»Ich habe keine Söhne.«
Sie setzte sich neben ihn aufs Bett, legte die Hand auf seine und beugte sich hinüber. Die Bluse war noch nicht zugeknöpft. Er konnte das schmale Brustbein erkennen. Und noch mehr als ihre Hand auf seiner war es der Anblick ihrer weichen hellen Haut, der ihm Trost spendete und das plötzliche Zittern beendete.
»Doch, du hast welche«, sagte sie. »Sam hat es mir erzählt.«
»Das hätte er nicht tun sollen.«
»Wenn du nicht darüber reden willst, werde ich dich nicht drängen. Aber gib Sam nicht die Schuld. Ich bin Reporterin. Ich finde alles Mögliche heraus. Sam ist ein guter Freund von dir.«
Er nickte. »Damals, als es passiert ist, hätte sich niemand einen besseren wünschen können.«
Seufzend setzte er sich auf.
»Du möchtest etwas von meinen Söhnen hören?«
»Nur, wenn du es mir erzählen willst.«
»In Ordnung. Tim war elf, der ältere vierundzwanzig …«
»Billy.«
»Genau. Ich benutze seinen Namen nicht mehr. Nur wenn ich mit Alice spreche. Sie ist diejenige, die immer damit anfängt. Deshalb rufe ich sie so selten an. Ich weiß, das ist falsch, aber …«
»… du möchtest nicht jedes Mal wieder darüber reden. Und da komme ich und fange auch noch damit an. Tut mir leid.«
»Schon gut. Ich habe nichts dagegen, dass du mich danach fragst. Bis vor Kurzem wäre das schon so gewesen, aber jetzt nicht mehr. Mit Allie ist es etwas anderes. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, dass ich wieder Kontakt mit ihm aufnehmen sollte. Dass es die Sache für mich irgendwie leichter machen würde. Aber ich sehe das anders. Das einzige Problem, dir die Geschichte zu erzählen, ist, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.«
»Fang mit Tim an.«
»Wir bekamen ihn spät. Ich war achtundvierzig und Mary war zweiundvierzig. Er war eine ziemliche Überraschung für uns beide. Wir mussten ihm den Dachboden herrichten und viele Sachen wegwerfen, die dort oben lagerten, damit er ein eigenes Zimmer bekam. Wie sich bald herausstellte, war er ein guter Junge, ein unkompliziertes Kind. Allie und seine Mutter freute das immens.
Billy war von Anfang an das genaue Gegenteil. Wahrscheinlich haben wir ihn deshalb umso mehr geliebt. Du weißt doch, wie es manchmal ist. Man sieht, wie ein Junge darum ringt, Dinge zu lernen, die andere Kinder im Handumdrehen begreifen, und deshalb schließt man ihn ins Herz. Es scheint mir, als hätte Billy alles, was gut war in seinem Leben, in etwas Negatives verwandelt. In der siebten Klasse hat er Baseball gespielt und ich habe ihn trainiert. Er kam problemlos in die Mannschaft, als Shortstop. Dann hat er sich auf dem Parkplatz das Bein gebrochen, weil er direkt nach dem zweiten Spiel vom Bordstein abrutschte. Ein Spiel, das seine Mannschaft übrigens verlor, weil ihm im entscheidenden Moment ein Fehler unterlaufen war. Sie waren also nicht besonders traurig, als er nicht mehr mitspielen konnte.
Wir wussten, dass er eine blühende Fantasie hatte. Ständig erfand er Geschichten. Einmal hat er uns erzählt, er habe unten am Bach einen Toten liegen
sehen. Da war er noch relativ klein, vielleicht sieben oder acht. Aber wir haben ihn ernst genommen. Natürlich lag dort niemand.
Als er in der achten Klasse sitzen blieb, verließ er die Schule. Er bekam einen Job in der Stadt bei Clover’s Hardware . Die Hälfte der Zeit kam er zu spät, weil er sich die Nächte um die Ohren schlug. Ständig hat er uns belogen, wo er angeblich gewesen sei. Mary und ich waren vielleicht nicht streng genug, aber seine Lügerei war wie eine angeborene Krankheit, gegen die man nichts machen konnte. Alle brachten Verständnis für ihn auf. Auch sein Chef, der alte Clover. Aber nach einer Weile musste er ihn trotzdem feuern.
Irgendwann kam ich auf die Idee, dass ihm vielleicht die Army guttun würde, damit er endlich ein bisschen Disziplin lernte. Bei mir hatte das auch funktioniert. Vielleicht wollte er damals sowieso ausziehen, denn es war jedenfalls eines der wenigen Male, dass er auf mich hörte. Er ging zur Navy. Neun Monate später wurde er
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