Blutrote Schwestern
den Korb in der Hand. Ich atme langsam, will mein Herz wieder in einen halbwegs normalen Rhythmus zwingen, während der Kassierer jede Mullbinde einzeln über den Scanner zieht.
»Was hat dich in die Stadt getrieben?«, frage ich.
Silas mustert mich. »Eigentlich Gitarrenstunden. Während ich bei Jakob war, habe ich angefangen, ein paar neue Sachen auszuprobieren. Ich wollte mich die ganze Zeit vor meinem Aufbruch bei einem Gitarrenkurs anmelden, aber ich habe es immer vor mir hergeschoben. Heute morgen habe ich mich endlich aufgerafft. Ich hatte gerade meine erste Stunde.«
»Wow. Das ist beeindruckend«, antworte ich und gebe dem Kassierer das Geld.
Silas lacht, voll und rauchig – Sarah und ihre Freundinnen starren in unsere Richtung, betrachten ihn, als wäre er eine Süßigkeit oder ein besonders schönes Schmuckstück, und messen mich mit Blicken, die wie eine Kampfansage wirken. Er schaut nicht einmal in ihre Richtung, seine Augen ruhen fest auf mir.
»Nein, kaum. Nach anderthalb Stunden bringen meine Finger mich um, und alles, was ich spielen kann, ist der erste Teil von ›Twinkle, Twinkle, Little Star‹. Und zwar langsam.«
Silas nimmt dem Kassierer meinen Einkaufsbeutel ab, und wir verlassen den Laden. Junge Leute mit T-Shirts, auf denen die Aufschrift »City of Ellison« prangt, schmücken die Laternenmasten mit rot-grünen Bannern für das Apfelfest an diesem Wochenende.
»Trotzdem«, greife ich den Faden wieder auf, »finde ich das mit den Gitarrenstunden beeindruckend. Ich wünschte, ich würde so etwas machen.«
»Was meinst du?«, fragt er, als wir am Fußgängerüberweg stehen bleiben.
Ich zucke mit den Schultern und sehe ihn an. »Allein
dass
du etwas tust, ist schon großartig. Etwas anderes als jagen und das ganze Waldarbeiter-Ding, meine ich.«
Silas wirkt verlegen. »Na ja … Ich war nie so ganz bei der Sache mit dem Waldarbeiter. Das war eher eine Art Familienerbe. Und jagen … Ich jage gern, aber das bedeutet nicht, dass die Jagd alles ist, was mich ausmacht. Ich tue es, weil es das Richtige ist. Die Gitarrenstunden nehme ich nur zum Spaß.«
Ich runzele die Stirn. »Vermutlich …« Aber dann fällt mir leider kein Argument ein, das nicht irgendwie ein schlechtes Licht auf Scarlett wirft, also klappe ich den Mund wieder zu.
Silas nickt in Richtung des grünen Ampelzeichens und legt seine Hand leicht auf meinen Rücken. Wo seine Hand mich berührt, rieseln Schauer über meine Haut, und ich fühle mich wie benebelt.
Geh, Rosie, geh schon. Sei nicht dumm.
Als wir am gegenüberliegenden Bordstein ankommen, deutet Silas auf etwas einige Blocks entfernt. »Ich kann dich nach Haue fahren, wenn es dir nichts ausmacht, ein paar Stunden zu warten. Ich muss noch beim Energiezulieferer vorbei, sonst sitze ich daheim im Dunkeln.«
»Ich, ähm …« Mit Silas ein paar Stunden zusammen im Büro des Energieversorgers verbringen? Und danach eine weitere halbe Stunde auf dem Weg nach Hause? Ich will das. Ich will das – unbedingt. Aber worüber sollen wir uns unterhalten? Wie lange wird es dauern, bis ich anfange, wie eine Idiotin zu kichern? Ich kann ohne Probleme einen Fenris anlocken – mich in den Hüften wiegen, lüstern kichern, mit den Wimpern klimpern –, aber ich habe keine Ahnung, wie ich es vermeiden kann, mich vor Silas Reynolds wie eine unbeholfene Vollidiotin zu benehmen. Der Fairness halber muss ich mir zugutehalten, dass ich nicht oft Typen sehe, die keine Werwölfe sind. Wie soll ich da auch wissen, wie ich mich zu verhalten habe?
»Nein, ist schon okay«, sage ich schließlich. »Ich nehme den Bus.«
Ich glaube, eine leichte Enttäuschung in Silas’ Gesicht zu bemerken. »Okay, kein Problem. Dann bringe ich dich schnell zur Bushaltestelle?« In seiner Stimme schwingt ein hoffnungsvoller Unterton, und ich nicke ein klein wenig zu eifrig.
Wir gehen bis zum Ende der Straße und stehen dann einige Augenblicke unschlüssig und schweigend unter dem Bushaltestellenschild.
Erzähl etwas, Rosie. Irgendetwas.
»Du kannst heute Abend wieder zum Essen kommen«, sage ich. Silas schüttelt den Kopf. »Ich würde wirklich gerne, aber ich bin schon verplant. Ich treffe mich mit jemandem aus der Schule zu einem exquisiten Mahl bei Burger King.« Die Ironie in seiner Stimme ist kaum zu überhören. »Ansonsten immer gern – geht es dir gut?«
»Mir? Oh ja. Also hast du eine heiße Verabredung?« Ich ziehe ihn auf und hoffe, dass die Enttäuschung in meiner Stimme nicht
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