Blutrote Schwestern
Lehrbücher und Schulgeschichten aus den Gesprächen ausklammert.
Ich drücke mich bei den parfümierten Seifen herum, länger, als ich müsste, und lausche dem Gespräch der Mädchen.
»Der hier passt aber nicht zu den Perlen auf dem Kleid«, stellt ein Mädchen mit perfekt gesträhnten hellbraunen Haaren fröhlich fest.
Sarah rückt ihre Brille zurecht. »Die müssen nicht passen. Probier mal den hier – der nennt sich Zweite Flitterwochen. Oh, oder vielleicht Hawaiianische Orchidee!«
Ich mustere das Mädchen mit den Strähnchen einen Moment lang eingehend und versuche mir vorzustellen, wie das Kleid aussieht und zu welcher Gelegenheit sie es wohl anziehen wird. Vermutlich nicht zum Abschlussball an der Highschool – wir haben nicht die richtige Jahreszeit dafür, oder? Dann stelle ich mir alle vier in bodenlangen hawaiianisch-orchideenfarbenen Gewändern in einem Ballsaal vor – einem Ballsaal wie aus
Aschenputtel.
Wenn die Dinge in meinem Leben anders gelaufen wären – würde auch ich dann jetzt hier stehen und über Nagellackfarben diskutieren?
Sarahs Blick streift den meinigen, als sie zu den Zweiten Flitterwochen greift, und ihrem Gesicht ist anzumerken, dass sie mich erkennt. Vielleicht sollte ich etwas sagen. Fragen, wie es ihr geht, ob sie sich an mich erinnert, für welchen Anlass sie den Nagellack aussuchen. Ich lächele sie an, warte, ob sie das Eis bricht und winkt oder irgendetwas. Aber nein – stattdessen lächelt sie nur höflich, wie sie vielleicht jeden x-beliebigen Menschen anlächeln würde, und kehrt zur Unterhaltung ihrer Freundinnen zurück. Ich gebe weiterhin vor, mich mit dem Seifenregal zu beschäftigen, höre jedoch genau hin. Ihre Stimmen tragen weit, selbst in Flüsterlautstärke.
»Ich glaube, sie ist mit uns zusammen zur Schule gegangen«, wispert die Blonde links von Sarah. Die anderen antworten leise, dann fährt die Blonde fort: »Ich erinnere mich nicht. Aber ich wünschte, ich hätte solches Haar wie sie. Meint ihr, sie benutzt ein Volumen-Shampoo?«
Kurz darauf murmelt Sarah: »Ja, ich weiß. Aber seht euch nur mal ihre Kleidung an. Sie könnte etwas Hilfe gebrauchen. Wer trägt schon so ein Pink? … Oh ja, ihre Schwester war das Mädchen, das total zerfetzt wurde!«
Das zerfetzte Mädchen und ihre Schwester. Ich weiß, ich sollte mich Scarletts wegen schlecht fühlen – sie hat schließlich den schlimmeren Titel abbekommen –, aber eine Woge des Selbstmitleids überkommt mich trotzdem. Ich drehe mich um und blende die Unterhaltung aus. Wieso sollte es mich kümmern, was sie denken? Sie beschäftigen sich mit Partys, Klamotten und anderen nutzlosen, dummen Dingen. Ich lasse eine Hand über die Seifenreihen gleiten, ehe ich ein korallenfarbenes Stück, das nach Blumen duftet, in meinen Korb werfe, wo es gegen die Flaschen mit dem Wasserstoffperoxid und das Verbandsmaterial poltert. Schweres Parfüm erregt die Fenris. Es zieht sie zu einem hin, macht sie hungrig.
Zweite-Flitterwochen-Nagellack würde keinen Unterschied für einen Fenris machen,
ermahnt mich eine Stimme in meinem Kopf, die klingt wie die von Scarlett.
Das ist reine Zeitverschwendung.
Als ich gerade ein paar weitere Stücke der Blumenseife einpacke, weht ein klarer, waldiger Geruch über mich hinweg und überdeckt den Blumenduft. Ich kenne diesen Geruch, obwohl es nicht derjenige ist, der einen Fenris umgibt. Gebannt halte ich den Atem an, habe Angst, als Erstes zu sprechen.
»Diese Mädchen können den March-Schwestern nicht das Wasser reichen«, sagt Silas und lehnt sich dabei so dicht an mich, dass ich seinen Atem auf meiner Schulter spüren kann.
Ein fremdes, neues Gefühl durchrieselt mich, und als ich zu ihm herumwirbele, ramme ich ihm aus Versehen meinen Einkaufskorb in die Seite. Ein paar Mullbinden fallen auf den Boden, und die Mädchen blicken von ihrem Nagellack-Problem auf, um über mich zu kichern.
Toll gemacht, Rosie.
Ich spüre, wie ich rot werde, als ich mich bücke, um die Binden aufzuheben. Als ich dabei mit der Hand Silas am Bein berühre, breitet sich die Röte bis in den Nacken aus.
Beruhige dich. Das ist nur Silas.
Ich erhebe mich und zwinge mich zu einem Lächeln, von dem ich hoffe, dass es nicht so linkisch aussieht, wie ich vermute.
Er lächelt zurück, mit strahlenden Augen, und greift nach vorn, um mir den Korb aus der Hand zu nehmen. »Wochenvorrat?«
»Vielleicht kommen wir auch einen Monat damit aus«, antworte ich und schlendere zur Kasse. Er folgt mir,
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