Blutrote Schwestern
erinnert sich an den Fenris. An den Augenblick, in dem er uns angreift. An seine Zähne.
Ich erinnere mich an unendlich viel mehr. Muss den Fleck nicht sehen, um das Geräusch zu hören, mit dem die Zähne des Fenris durch die Haut an Oma Marchs Bauch drangen. Oder um mich zu erinnern, wie es sich anfühlte, zum letzten Mal aus meinem rechten Auge zu blicken. Die Kralle, die auf mein Gesicht zurast, der explodierende Schmerz. Der rasende Wunsch nach Vergeltung, das helle Kreischen, das durch meine Adern pulst – das unbändige Verlangen, das Letzte zu sein, was das Biest
jemals
sehen wird. Der Wirbel aus dunklem Blut und grellrotem Zorn, der mich für immer verändert hat. Ich warte, bis ich das sanfte Rascheln höre, mit dem der Vorleger den Boden berührt. Erst dann wende ich mich wieder meiner Schwester zu. Alles in diesem Raum schmerzt. Als rissen meine Narben auf, wann immer ich ihn betrete, mit jedem Drehen des Türknaufs, wieder und wieder.
»Entschuldigung«, flüstert sie. Dann steht sie vom Bett auf und stellt das Bild zurück auf den Nachttisch, genau an dieselbe Stelle, an der es vorher stand. Ich glätte die Steppdecke, folge Rosie zur Tür. Sie schließt sie – leise, als wäre jemand auf der anderen Seite, den sie nicht stören möchte.
»Wieso gehst du nicht in die Stadt, um den Film für heute Abend auszuleihen? Außerdem brauchen wir mehr Verbandszeug«, setze ich hinzu und öffne die Kühlschranktür.
Rosie nickt und nimmt einen Kanister von der Arbeitsfläche. Sie wühlt sich durch ein paar Lagen Kekse bis zu dem Beutel mit den Zwanzig-Dollar-Noten, nimmt zwei heraus und versteckt den Beutel wieder.
»Nimm deine Messer mit.«
Rosie wirft mir einen skeptischen Blick zu, legt dann aber den Gürtel an, in dem ihre Jagdmesser stecken.
Ich bin übervorsichtig, das ist mir klar. Auf der anderen Seite … der Fenris ist überall.
Und ich weiß es.
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Kapitel 4
Rosie
M eine Mutter ist die Einzige in unserer Familie, die Auto fahren kann, und trotz all ihrer Fehler muss ich zugeben, dass ich sie dafür in gewisser Weise bewundere. Oma March bestand steif und fest darauf, Autos wären Geldverschwendung, und nachdem sie von uns gegangen war, übernahm Scarlett diese Einstellung. Ich bin also an eine Menge Lauferei gewöhnt. Die Innenstadt von Ellison zum Beispiel ist mit dem Auto nur eine knappe halbe Stunde entfernt, aber zu Fuß und mit dem Bus braucht man gut zwei Stunden. Mit zwei Stoffbeuteln in der Hand trotte ich unsere Schotterpiste hinunter – dass die Plastiktüten aus den Läden bei einem langen Marsch leicht reißen, habe ich am eigenen Leib erfahren.
Die Erhebungen und das Farmland, auf dem unser Haus liegt, werden »Hügelland« genannt – zu Recht. Alles geht fließend ineinander über: Bäume in Wälder, Hügel in den Horizont, Wolken in Berge. Hier scheint nichts wirklich zu enden – ganz so, als lebten wir im rundesten Teil der Welt. Wann immer ich in den Nachrichten Filme von Städten, Wüsten oder hohen Bergen sehe, kann ich kaum glauben, dass es solche Orte tatsächlich gibt – so zerklüftet, flach oder scharf. Die paar Male, die ich in Atlanta war, habe ich mich gefühlt, als wanderte ich durch ein Geschichtenbuch, das unmöglich wahr sein konnte.
Ich finde einen Stein und kicke ihn im Gehen fort. Immerhin: Der halbe Weg zur Bushaltestelle ist geschafft. Bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen es Scarlett nach Ellison verschlägt, meidet sie den Bus und geht zu Fuß. Sie sagt, wenn sie so lange mit Fremden zusammensitzt, verlieren die Leute die Scheu und starren sie an. Einmal hat ihr jemand die Karte eines plastischen Chirurgen zugesteckt. Die Menschen verstehen nicht, dass die Narben, die Bisse, die Wunden und der Schmerz meine Schwester erst ausmachen.
Als wir klein waren, waren Scarlett und ich felsenfest davon überzeugt, dass wir ursprünglich im Bauch unserer Mutter eine Person gewesen waren. Wir glaubten, dass ein Teil von uns geboren werden und der andere bleiben wollte. Also musste unser Herz zerbrochen werden, damit Scarlett zuerst geboren werden konnte, und ein paar Jahre später bot dann auch ich der Welt die Stirn. In unseren kleinen Köpfen mit den Pferdeschwänzen ergab das Sinn – es erklärte, warum wir, wenn wir durch Gras rannten, tanzten oder uns im Kreis drehten, das Gefühl dafür verloren, wer von uns wer war, und es sich anfühlte, als gäbe es eine organische, zarte Verbindung zwischen uns. Unser gemeinsames Herz schlug im Takt
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