Blutrote Schwestern
wirbelt herum und deutet auf eine Stelle am Waldboden.
Rosie stößt ein erschrockenes Japsen aus. Ich zwinge mich zur selben Reaktion, obwohl ich denke, dass es ziemlich übertrieben klingt.
Ist es falsch, dass ein Teil von mir es gewohnt ist, einen Fenris zu erkennen, wenn er ein Mädchen dazu bringen möchte, sich zu winden, vor ihm zu zittern oder zu weinen, ehe er sie frisst? Der Fenris zeigt auf etwas, das ein Reh zu sein scheint, aber nur entfernt. Es ist ein Kadaver, blutig, ausgeweidet. Windungen rosafarbener Eingeweide liegen ausgebreitet auf dem Waldboden wie Würmer, und die Zunge hängt aus dem Maul direkt bei den toten grauen Augen. Es ist nahezu in der Mitte zerrissen, und die Wunden sprechen alle für einen Wolf: zerfetztes Fell, gebrochene Beine, die wie ein Stapel verdrehter Zweige unter dem Körper des Tieres liegen. Rosie schlägt die Hand vor den Mund, aber ich glaube nicht, dass es gespielt ist – sie sieht wirklich aus, als ob ihr schlecht werden könnte.
»Ich sagte, hier ist es!«, wiederholt der Mann. Seine Stimme zittert.
Ich habe Dutzende und Aberdutzende von Wölfen in meinem Leben getötet, und niemals hatte auch nur einer von ihnen eine zitternde Stimme. Ich blicke zu ihm auf, ignoriere, dass ich damit meine Tarnung aufgebe und er meine Narben sehen kann. Plötzlich beginne ich zu verstehen, warum Tränen in seinen Augen stehen. Er ist gar kein Wolf. Er ist ein Mensch. Ein dummer, närrischer Mensch, der sehnsüchtig auf einen Fleck etwas knapp über meiner Schulter starrt.
»Zwei?«, fragt eine tiefe, knurrende Stimme hinter mir. »Ich sagte fünf.«
Rosie und ich wirbeln herum. Der Fenris ist jünger, mit zerzaustem Haar und zerrissenen Jeans. Rosie nimmt den Kopf nach unten, was mir alles sagt, was ich wissen muss: Das ist der Fenris, dem sie gestern gegenüberstand, und sie darf nicht zulassen, dass er sie wiedererkennt. Ich stelle mich vor meine Schwester, versuche von ihr abzulenken. Ich will zu unseren Bedingungen gegen ihn kämpfen. Wenn wir sagen, dass die Zeit dazu reif ist – nicht wenn der Wolf es sagt.
»Und die hier ist beschädigt«, faucht der Fenris und starrt mein Gesicht voller Verachtung an. Sein Kopf ist bereits halb verwandelt – er sieht aus wie ein Mensch, dessen Gesichtsknochen zerbrochen und hastig wieder zusammengeklebt wurden.
»Bitte«, bettelt der Mann hinter uns, abgehackt, die Stimme gebrochen. »Ich hab’s versucht, aber ich hab mich im Wald verirrt. Zwei, mehr konnte ich in einer halben Stunde nicht besorgen.«
»Du kümmerst dich also nicht um sie?«, äfft der Fenris ihn nach. Ich brauche einen Moment, bevor ich verstehe, über wen der Wolf spricht, aber dann sehe ich sie – eine junge Frau mit seidigem flachsblondem Haar, die zitternd an einem Baumstamm sitzt. Sie hat ihre Knie unter das Apfelzeit-T-Shirt gezogen, als sei der Jersey-Stoff eine Art Schild gegen das Monster.
»Doch, das tue ich!«
»Nicht genug, um ihre Freiheit zu erwirken.« Der Fenris zuckt mit den Schultern, seine Nägel werden langsam zu Klauen, und seine Augen verdunkeln sich. Der Mann hinter uns beginnt wieder zu weinen.
Pa Reynolds sagte, dass Wölfe manchmal so was machen: Menschen erpressen, wenn sie zu schwach sind, um sich all die Beute, die sie brauchen, selbst zu jagen. Letzten Endes: Wer wäre nicht bereit, andere zu opfern für diejenigen, die er liebt? Rosie hat ihm gestern definitiv nichts geschenkt, wenn er fünf Mädchen will. Es ist das erste Mal, dass ich einen Fenris mit einer Geisel bekämpfe, also beobachte ich den Wolf sorgfältig und versuche meinen Angriff genau zu planen.
Dann sehe ich es. Mein Auge, mein Geist, mein Hals – alles fühlt sich dunkel und trocken an. Auf seinem rechten Handgelenk das saubere, scharfe Mal. Ein Rudelzeichen, das ich wiedererkenne, ein Rudelzeichen, das ich erst einmal zuvor gesehen habe. Und zwar für einen kurzen Moment auf dem Handgelenk des Mannes, der damals zum Haus meiner Großmutter kam, um Orangen zu verkaufen. Ich bekomme eine Gänsehaut, und etwas Mächtiges durchströmt mich. Ich weiß nicht, ob Rosie das Zeichen bemerkt hat, aber als meine Nerven zum Zerreißen gespannt zu sein scheinen, nimmt sie meine Hand und hält sie. Als ob sie es instinktiv wüsste. Ich atme aus.
Ein Pfeil, zurück in Ellison. Jagen ist purer Automatismus für mich – mein Körper und mein Geist tun es einfach, als wären sie genau dafür geschaffen worden. Aber der Pfeil lässt mich vor Emotionen beben, mein Herz
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