Blutrote Schwestern
Finger.
Beinahe-Silas steigt aus dem Kleidergewirr und geht in die Mitte des Raumes, auf seinem glatten Körper spiegelt sich das Licht der Neonröhren. Er lächelt, als wäre er nicht nackt, als hätte ich es nicht irgendwie geschafft, den Platz zu bekommen, der ihm am nächsten ist. Als könnte ich nicht … ähm …
alles
sehen, nur ein paar Schritte von meinem Gesicht entfernt. In meinem Kopf dreht sich alles träge. Ich presse die Augen einen Moment lang zusammen. Der junge Mann sieht im Gesicht wie Silas aus, deswegen frage ich mich, ob er auch
überall sonst
wie Silas aussieht.
»In Ordnung, meine Damen, die nächste Pose dauert sieben Minuten. Bereit?«, fragt der ältere Mann und stellt sich hinter die andere leere Staffelei. Die Hausfrauen im Raum nicken in einer einzigen gierigen Bewegung. Ich zittere. »Los!«, sagt der ältere Mann und schaut auf seine Stoppuhr. Beinahe-Silas wirft sich in Positur, was irgendwie an Michelangelos David erinnert, nur dass statt gefühlloser Augen, die ins Nichts starren, sein Blick quasi direkt auf mir ruht.
Zeichne.
Es wird erwartet, dass ich zeichne. Also nehme ich ein neues Stück Zeichenkohle unten aus der Staffelei und fange an, hastig einige Linien in meinen Skizzenblock zu zeichnen. Ich kann ihn nicht
nicht
anschauen, sonst wird er denken, ich zeichne ihn nicht. Ich blicke hastig hin und versuche die Region zu vermeiden, zu der meine Augen ständig zurückkehren wollen. Bald fange ich an, mich unwohl zu fühlen.
Wie viel Zeit ist wohl vergangen? Die sieben Minuten sind sicherlich schon vorbei. Ich versuche der Brust meiner Zeichnung ein bisschen mehr Farbe zu verleihen und frage mich, wie die Brust von Silas wohl aussieht …
Stopp! Stopp stopp stopp stopp stopp –
»In Ordnung!«, sagt der ältere Mann, als seine Stoppuhr laut piept, und das kratzende Geräusch von Kohle auf Papier erstirbt.
Danke sehr, vielen Dank …
»Uuuuund nächste Position!«
Beinahe-Silas dreht den Kopf zur Seite, bis alles, was ich sehen kann, sein dunkelblondes Haar, die Seite seines Körpers und eine Seitenansicht seines … wie oft muss ich diese
Gegend
des männlichen Körpers wohl zeichnen? Was noch schlimmer ist: Wenn ich seine Augen nicht sehe, ist er Silas noch ähnlicher.
Genau
wie Silas sieht er dann aus. Mein Blick verweilt länger auf ihm als nötig, jetzt, da er mich nicht direkt anstarrt.
Zum Ende der Stunde habe ich acht mittelmäßige Zeichnungen von ihm gemacht, jede einzelne mit einem großen weißen Fleck in der Unterleibsgegend. Die Hausfrauen vergleichen ihre Werke mit heißhungrigen Blicken, während Beinahe-Silas sich die Hose wieder anzieht und freundlich nickend den Raum verlässt. Ich stelle ihn mir noch einmal nackt vor.
Dann stürze ich aus dem Raum und lasse meine Skizzen da – wie sollte ich die Scarlett oder Silas erklären?
Hör auf, an Silas zu denken, hör auf, an Silas zu denken.
Im Laden angekommen, bin ich erleichtert, als die kühle Luft der Tiefkühlabteilung meine Haut umweht. Eiscreme und gefrorene Erbsen – irgendetwas Kaltes. Ich presse mir den Beutel mit den gefrorenen Erbsen in den Nacken, während ich an der Kasse warte. Die Verwirrung lässt endlich nach, und ich bekomme es hin, ein paar Augenblicke lang einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne an den nackten Mann zu denken, den ich gerade gesehen habe.
Als ich zurück ins Apartment eile, frage ich mich, wie lange ich wohl weg war. Ich schiebe die Tür auf und lasse prompt die gefrorenen Erbsen fallen.
Silas grinst mich an, mit freiem Oberkörper und leicht gebräunter Brust, die im Sonnenlicht, das durch die dreckigen Fenster fällt, schimmert. Die Hose hat er absichtlich tief auf die Hüfte gezogen, und ich kann nicht anders, ich muss schon wieder an die Zeichnungen denken. Dass die Bauchmuskeln von Beinahe-Silas fast genauso wie die des echten aussahen und dass deswegen vielleicht alles gleich wirkt … Ich laufe rot an und atme zitternd aus.
Dann tritt Scarlett Silas mit voller Wucht in den Bauch.
Er grunzt und fällt mit schmerzverzerrtem Gesicht nach hinten. »Du musst heute Abend trotzdem rausgehen«, würgt er heraus, während Scarlett die Hand ausstreckt, um ihm aufzuhelfen. Ihr Haar ist zu einem straffen, hohen Pferdeschwanz gebunden, der beim Lachen vor und zurück schwingt.
»Ich hab trotzdem gewonnen«, kichert sie zur Antwort. Schweißperlen benetzen ihren Bauch, Tropfen rinnen die dicke Narbe entlang, die quer über ihren Unterleib verläuft. Sie hat
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