Blutrote Schwestern
ich stelle fest, dass der dicke Kloß in meinem Hals vom Weinen kommt. Ich weine nicht. Ich weine nie. Aber ich würde so gerne.
Kümmert es sie denn nicht? Ich dachte, wir wären alle aus demselben Grund hier. Rosie ist meine Schwester – wie kann es ihr egal sein? Für sie habe ich mich mit den Wölfen angelegt, ich habe mich vor sie gestellt, und nun, im Gegenzug,
muss
sie sich kümmern.
Silas spricht sanft. »Weil niemand sein Leben ausschließlich mit Kämpfen verbringen kann, Lett. Komm her, setz dich zu uns.« Er geht auf mich zu und streckt eine Hand aus. Manchmal spricht er auf eine Art zu mir, die mir das Gefühl gibt, er und ich wären die einzigen Menschen im Raum. Ich will seine Hand ergreifen. Mehr als alles andere, ich würde mich gern hinsetzen und nur einen Moment lang nicht über die Jagd nachdenken, meine Verpflichtung so einfach abwerfen wie sie.
Sie
– die beiden wunderschönen Menschen, unversehrt, ein exklusiver Club. Natürlich wollen sie die Nacht lieber mit Sitzen und Reden verbringen, als zu jagen.
Silas und Rosie lehnen sich zueinander hin, als ob sie den jeweils anderen vor mir beschützen könnten. Als wäre ich eine Außenseiterin statt der Schwester, statt der Partnerin. Frustriert schüttele ich den Kopf und tauche wieder im Badezimmer ab. Dann knalle ich die Tür hinter mir ins Schloss und drehe die eiskalte Dusche auf, um die Geräusche ihrer geflüsterten Unterhaltung, die Sirenen unten in der Stadt und die gedämpften, erstickten Schluchzer, die sich in meinem hässlichen vernarbten Hals nach oben zwängen, zu ertränken.
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Kapitel 12
Rosie
I n der folgenden Woche besuche ich keinen Kurs im Kulturzentrum. Jeden Abend koche ich Nudeln, und wir essen die Reste am nächsten Morgen. Wir verlassen kaum das Apartment. Es ist, als würden wir stillstehen. Scarlett und ich schieben die Couch zur Seite und trainieren im Wohnzimmer. Sie macht es, weil sie meint, ich würde meinen Biss verlieren, wenn wir nicht trainieren. Ich mache es, weil ich glaube, dass sie verrückt wird, wenn wir nicht trainieren. Sie zählt die Tage bis zum nächsten Vollmond wie ein Häftling in der Todeszelle die Stufen zum elektrischen Stuhl.
Natürlich könnte ich auch verrückt werden. Ich habe mich in einen Waldarbeiter verliebt, dabei
darf
es einfach nicht sein. Scarlett hat keine Zeit für die Liebe, wieso sollte ich sie dann haben? Aber es fällt mir schwerer und schwerer, meine Gefühle Silas gegenüber nicht laut hinauszuschreien. Während meine Schwester die Tage damit verbringt, ihre Notizen über Fenris zu wälzen, zieht Silas mich mit sich. Er überredet mich, mit ihm um den Block, durch die Straße oder durch die ganze Stadt zu laufen, bis wir uns im Gespräch verlieren. Ich versuche ihn nicht zu berühren. Nicht, weil ich es nicht will, sondern weil ich Angst habe, dass ich, wenn ich ihm über die Hand streichele oder er mir locker einen Arm um die Hüfte legt, nicht mehr aufhören kann. Ich will ihn wieder berühren. Und wieder. Ich will, dass er mich in seinen Armen hochhebt, so wie er es in der Nacht gemacht hat, als er nach Ellison zurückkam. Ich will ihn auf eine Art, die mich vor Lust und Angst gleichzeitig erschauern lässt.
Und Scarlett weiß es.
Na ja, wirklich wissen tut sie es nicht, aber sie ist nicht dumm – ich sehe, wie sie mir und Silas hin und wieder misstrauische Blicke zuwirft. Ich glaube, sie weiß, dass wir an den Fäden ziehen, die uns drei miteinander verbinden, ihr ist nur nicht klar, dass wir in eine Richtung ziehen.
Aber ich bin eine Jägerin. Wenn wir von einem Spaziergang zurückkehren und ich sehe Scarlett mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem Stirnrunzeln dasitzen, das ihr mittlerweile ins Gesicht gewachsen zu sein scheint, dann wird mir eines endgültig klar: Ich kann nicht handeln. Ich muss warten, bis das Gefühl vergeht. Ich verdanke Scarlett mein Leben, und wenn sie darauf besteht, dieses Leben mit der Jagd auf Welpen und Wölfe zu verbringen, dann … ist das der Preis, den ich zahlen muss.
Am folgenden Dienstag hat Scarlett mit Silas’ Hilfe einen weiteren gigantischen Stapel Bücher aus der Bibliothek mitgebracht. Sie sind ziemlich lächerlich – Bände über wilde Wölfe, Monster, Mythen. Langsam verzweifelt sie, liest selbst jene Bücher noch einmal, von denen sie weiß, dass sie uns auf der Suche nach dem Welpen nicht helfen werden. Ich zwinge sie zu frühstücken, aber beim Mittagessen fühle ich mich, als müsste ich
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