Blutrote Schwestern
Suchmaschine auf.
Ich seufze. »Ich muss hier raus.« Der Drang zu jagen tobt in mir, bis es sich anfühlt, als müsste ich explodieren. Silas ist unterwegs und bezahlt unsere Miete für den zweiten Monat. Als ich mich für den Aufbruch fertig mache, sieht Rosie mit ihrem Kühlpack und den Büchern um sich herum so bemitleidenswert aus, dass ich sie verschone, obwohl es mir anders lieber wäre – vielleicht bringen irrsinnige Freundlichkeit und absolutes Verständnis sie zurück an meine Seite?
»Warte mal«, sagt sie, als ich noch schnell mein Beil schärfe. »Du gehst jetzt einfach los und streifst durch die Straßen, um nach Porter zu suchen?«
»Porter. Einen Wolf.
Irgendwas.
Ich muss was tun, Rosie«, knurre ich, reiße die Tür auf und stürme die Treppen hinunter.
Ich streife durch die Straßen des Geschäftsviertels, der Mantel flattert im Wind, das Beil fest an meiner Seite. Es ist eine Schande, dass ich nicht ins Krankenhaus gehen kann, um den Fenris aus Rosies Tanzkurs zu erledigen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis seine Seele komplett verloren ist und er nicht mehr kontrolliert werden kann. Aber irgendetwas sagt mir, dass das Krankenhauspersonal nicht besonders glücklich über ein vernarbtes Mädchen mit einer Augenklappe sein wird, das kurz hereinschneit und einen ihrer Patienten zerhackt – ganz gleich ob er nun kriminell ist oder nicht. Vermutlich ist es das Risiko, dass sie mich festsetzen und mit Drogen vollpumpen, nicht wert.
Ein paar Geschäftsleute kommen spät aus ihren Büros und werfen mir misstrauische Blicke zu, wenn ich sie mit meinem gesunden Auge finster anstarre. Obdachlose, das übliche Pärchen, das diese oder jenen nach Hause begleitet. Aber kein Fenris. Nicht einmal ein Schmetterling. Als ich ernsthaft anfange zu überlegen, ob ich James Porters Namen durch die Straßen schreien soll, stelle ich fest, dass ich wohl besser zurückgehen sollte. Frustriert trotte ich zum Apartment. Der Junkie unter uns ist offensichtlich gerade dabei, einen neuen Drogencocktail zu brauen; jedenfalls hängt der Gestank wie eine dicke Wolke im Treppenhaus. Ich eile an seiner Tür vorbei zu unserer, bleibe stehen und betrachte neugierig die Pfütze Regenwasser, die sich zu meinen Füßen bildet.
Die Tür steht einen winzigen Spaltbreit offen und wirft einen fahlen Streifen goldenen Lichts auf den ansonsten dunklen Treppenabsatz. Ich höre Rosie – ich glaube, dass es Rosie ist, aber die Stimme ist anders. Sie klingt älter, erwachsener und weicher, wie die Stimme einer Frau, anstatt der meiner kleinen Schwester. Ich runzele die Stirn, lehne mich gegen die Wand neben der Tür und fahre mit den Fingern über die Risse abblätternder Farbe, während ich den Hals verrenke und versuche hineinzuspähen, um den Grund für die Veränderung in ihrer Tonlage herauszufinden. Ich weiß, dass meiner Schwester hinterherzuspionieren nicht gerade moralisch korrekt ist, aber ich kann mir nicht helfen – ich bin neugierig.
Viel erkennen kann ich nicht, außer einem kleinen Stück Küche und einer winzigen Keramiklampe, die sich redlich abmüht, das ganze Apartment zu beleuchten. Dahinter, vor dem Fenster, erstrahlt die Skyline Atlantas in der Dunkelheit. Wieder Rosies Stimme – es kann nur meine Schwester sein. Sie stolpert durch die Stille, aber ich verstehe ihre Worte nicht. Dann eine andere Stimme, tief und süßlich … Silas. Er spricht in einem sanften, melodischen Rhythmus, der ihn viel älter erscheinen lässt, als die drei Jahre, die er mir voraushat. Ich beuge mich näher zu dem Spalt in der Tür, atme den herrlichen Geruch von Orangenblütentee ein, der auf dem Herd steht. Während ich nach dem Glastürknauf greife, frage ich mich, welches Gesprächsthema ihre Stimmen so fremd erscheinen lässt.
Silas tritt in meine Sichtlinie und lehnt sich gegen den Küchentresen, und fast im selben Moment erkenne ich Rosie, deren schwarzes Haar ihr herzförmiges Gesicht umweht. Sie zieht die Teekanne vom Herd, wischt sich die Hände an der Jeans ab und lacht über etwas, das Silas gesagt hat. Er lächelt breit, mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. Ich ergreife den Türknauf und bin kurz davor, hineinzugehen, um zu fragen, was denn los sei, doch irgendetwas hält mich zurück.
Irgendetwas ist anders. Etwas, das über die Veränderung in Rosies Stimme hinausgeht, etwas, das mich belastet und dafür sorgt, dass mein Magen sich zusammenzieht. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, bis Silas
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