Blutrote Sehnsucht
Scham. Wie lüstern! Nur weil sie auf die Berührung eines Mannes verzichten musste, streichelte sie sich selbst im Schlaf? Wie jämmerlich ... und kalt und nüchtern. Jeder, den sie kannte, würde es sündig nennen. Traurigkeit legte sich schwer auf ihre Seele. Nicht so sehr ihrer Sünde wegen, sondern weil das alles war, was sie je darüber erfahren würde, eine Frau zu sein. Du dummes Ding! , sagte sie sich. Wenn das alles war, dann konnte sie auch ohne es leben.
Es war noch dunkel, und da die Vorhänge in ihrem Zimmer nicht zugezogen waren, konnte sie die vom Wind geschüttelten Äste sehen, deren Zweige hin und wieder am Glas der Fenster scharrten. Dichte Regenschleier schlugen dagegen und liefen daran herunter, was die Welt dahinter irgendwie nicht ganz real erscheinen ließ. Der Morgen würde bald heraufziehen. Von einer seltsamen Mattigkeit beherrscht, fühlte Ann sich nicht einmal stark genug, um sich zu rühren. Das schwache Fleisch! Sie hatte ihre Kraftreserven mit ihrem Herumspielen an sich selbst vergeudet, während sie an ihren Cousin und ihren Onkel hätte denken müssen, statt an Mr. Sincai. Sie konnte buchstäblich spüren, wie Van Helsing in seinem Zimmer ruhte und Maitlands, ihren Zufluchtsort, vergiftete. Bald würde es hell werden, und dann würde Erich zu ihr heraufkommen, wann immer es ihm beliebte, oder sie unten erwarten, wenn sie zu einem Besuch zu ihrem Onkel ging. Sie war nicht einmal sicher, ob er bis zur Hochzeit warten würde. Was sollte ihn daran hindern, sie gleich hier in ihrem Bett zu nehmen, auf welch abscheuliche Weise auch immer er das vorhaben mochte? Auf jeden Fall wäre es etwas völlig anderes als in ihrem Traum von Stephan Sincai.
Sie musste Maitlands verlassen. Nicht für immer – wie könnte sie das auch nur in Erwägung ziehen? Aber zumindest für den Augenblick. Sie schlüpfte aus dem Bett, warf sich den Umhang über und zog ihre Stiefeletten an, um sich zu ihrer Höhle zu begeben.
In dem Moment drehte sich der Schlüssel im Schloss der Tür. Erich stieß sie auf, ohne den Türklopfer zu benutzen, den Ann vor langer Zeit hatte anbringen lassen, um vor Eindringlingen in ihre Privatsphäre gewarnt zu sein. Nicht einmal Erichs Schritte hatte sie im Treppenhaus gehört. »So«, sagte er mit einem vielsagenden Blick auf sie und klopfte mit einem zusammengerollten Dokument in seine Handfläche.
Ann zog den Umhang um sich enger zusammen und konnte spüren, wie das Blut aus ihren Wangen wich. »Wie ... wie kannst du es wagen, ohne meine Erlaubnis einzutreten?«
Mit einem gereizten Blick kam er ein paar Schritte auf sie zu. Das Klatschen des zusammengerollten Papiers, das er noch immer gegen seine Hand schlug, zerrte an Anns Nerven. »Und wie kommst du hier heraus, meine trotzköpfige kleine Irre?«
»Heraus? Oh, du meinst meinen Umhang«, sagte sie und überhörte die Beleidigung geflissentlich. »Mir war kalt.«
»Netter Versuch«, entgegnete er spöttisch. »Aber du lügst. Du wolltest hinaus, obwohl deine Tür verschlossen war.« Wieder blickte er sich um, diesmal schon genauer. »Dann wollen wir doch mal sehen, wie du hier herausgelangst, kleine Irre.«
Zu Anns Entsetzen ging er zu einem Bücherregal und ließ seine Hände über die mit Schnitzereien bedeckten Ränder gleiten. »Apropos irre – was tust du da?«, fragte sie ihn mit erstickter Stimme.
Er fuhr zu ihr herum. »Wo ist sie? Es gibt hier eine verborgene Tür, nicht wahr?«
»Du bist nur zu Gast in meinem Haus, Erich, und wirst meine Privaträume sofort verlassen«, befahl sie ihm, so ruhig und gebieterisch sie konnte, obwohl ihre Knie schon zu zittern anfingen. Dieser elende Lump würde den Ausgang finden ... Oh, nein! Jetzt strich er schon mit der Hand über die steinernen Verzierungen neben dem Kamin ... über den Knopf im Mittelpunkt der Rose ...
... und die kleine Tür sprang auf.
Ein fast schon wahnsinniges Flackern trat in seine Augen, als er triumphierend zu ihr herumfuhr. »Ha! Wusste ich es doch!«
»Und?« Ann merkte, dass sie trotz der Wut und Furcht, die in ihr brodelten, äußerlich ganz ruhig wurde. Die geheime Tür war das Einzige, was noch verhinderte, dass ihre Zufluchtsstätte ein Gefängnis war.
»Und jetzt werde ich sie von Polsham von beiden Seiten vernageln lassen«, erklärte Erich und straffte die Schultern.
»Polsham bekommt seine Anweisungen von mir.« Aber Erich schien sich seiner Sache viel zu sicher zu sein.
Jetzt ließ er ein schwaches Lächeln auf seinem Gesicht
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