Blutrote Sehnsucht
anderen? Was, wenn das Training nur dazu diente, dich fügsamer zu machen?«
»Ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie mich gewählt haben, um ein Exempel an jemandem zu statuieren, der sich gegen die Lehren der Ältesten aufgelehnt hatte.«
»Na schön. Dann eben beides. Ein Rebell mit entschieden zu viel Macht.«
»Ann, so möchtest du es sehen. Sie hatten schon andere vor mir ausgebildet.«
»Ohne Erfolg.«
Jetzt wurde er ärgerlich. »Aber nur, weil es zu schnell gegangen ist.«
»Hör mal«, entgegnete sie mit leiser Stimme. »Du glaubst nicht wirklich, dass du heute Nacht mit deinen Techniken gewinnen kannst. Was hast du also zu verlieren? Öffne dich deiner ganzen Macht ...«
»Ich habe dir zugehört.« Er blickte wieder in den finsteren Wald hinaus. »Geh jetzt.« In seiner Stimme lag eine Dringlichkeit, die vorher noch nicht da gewesen war.
Dann roch sie es. Zimt und ein Hauch von Ambra wehten in ihre Richtung. Ann spürte eine kribbelnde Unruhe in der Luft, wie von Dutzenden Insektenflügeln. Das an dem Pfosten angebundene Pferd stieß ein ängstliches Wiehern aus.
Stephan und Ann wandten sich im selben Moment dem Wald zu, als die wirbelnden schwarzen Nebelsäulen aus dem Schatten traten. Sie waren zu sechst. Vor den anderen stand ein Mann mit dunklem Haar und blasser Haut. Er war mit einer schlichten gelbbraunen Hose, Reitstiefeln und einem Rock ohne jegliche Verzierungen bekleidet. Seine Gesichtszüge waren fein wie die eines Iren, mit einer geraden, nicht allzu großen Nase und Augen, die wahrscheinlich von Lachfältchen umgeben wären, wenn er lachte. Dieser Mann hatte jedoch seit langer Zeit nicht mehr gelacht. Sein Mund, der ein wenig breiter war als die meisten, war in grimmiger Entschlossenheit verzogen. Dieser Mann sah nicht so aus, wie Ann erwartet hatte. Kein Anzeichen von etwas Bösem war in seinen gut aussehenden, offenen Zügen zu erkennen. Er trug kein Kainsmal.
Aber sie hegte dennoch keinen Zweifel daran, wer er war. Und Stephan auch nicht. Der Druck seiner Hände um ihre Oberarme verstärkte sich, und er zog sie hinter sich. »Kilkenny«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme.
Ann spähte um Stephan herum. Kilkenny blieb stehen. Die anderen hinter ihm schwärmten zu einer Linie aus. Sie wirkten alt und jung zugleich, trugen Alltagskleidung oder elegante Röcke, waren unscheinbar und gut aussehend. Alle starrten mit furchtbarer Entschlossenheit Stephan an, als das rote Glühen aus ihren Augen wich.
»Und du musst der Harrier sein«, sagte Kilkenny. Auch seine Stimme klang ganz anders als erwartet. Er sprach nicht in dem singenden Tonfall der Iren, sondern mit ausgeprägtem schottischem Akzent. Der Mann mochte von irischer Herkunft sein, aber er war ganz offenbar im schottischen Tiefland aufgewachsen. »Wir haben eine Rechnung zu begleichen, glaube ich.«
»Ja.«
Sechs! Das waren Anns Empfinden nach eindeutig zu viele. Würde Stephan doch nur ihren Rat befolgen! Es war ein denkbar ungünstiger Moment, um eine unbewiesene Theorie zu erproben, aber anders würde er sich nicht gegen sechs dieser Ungeheuer behaupten können, oder?
»Lass das Mädchen gehen, Kilkenny! Es hat nichts damit zu tun.«
Kilkenny warf Ann einen Blick zu. Sie konnte seine hellen Augen sehen, die weder richtig blau noch grün, ja nicht mal grau waren. Er nickte. »Ein Mensch hat hier heute Nacht nichts zu suchen.«
Ann ließ den Blick über die Reihe der Vampire gleiten. Dann kehrten ihre Augen zurück zu dem, der direkt hinter Kilkenny stand. Es war die Kreatur, die Molly getötet hatte, indem sie ihr wie ein wildes Tier das Blut genommen hatte. Ann lief es kalt über den Rücken.
Stephan stieß sie auf den Einspänner zu. »Geh!«, zischte er. »Sofort!«
Ann stolperte auf Pferd und Wagen zu. Sie wollte den Kampf nicht mit ansehen. Was konnte sie auch gegen sechs Vampire ausrichten? Sie war knapp über einen Meter fünfzig groß und vielleicht gerade mal fünfundvierzig Kilo schwer. Es gab nichts, was sie hier erreichen konnte, außer Stephan mit seiner Angst um sie durcheinanderzubringen.
Deshalb stieg sie widerspruchslos in den Wagen und nahm die Zügel ihres Pferdes in die Hand. Niemand sonst bewegte sich. Ann ließ die Zügel auf den Rücken des Haflingers klatschen, und Max stürmte den Weg hinunter, als wäre ihm der Teufel auf den Fersen. Und vielleicht war es ja auch so. Der Wagen holperte über den unebenen Weg. Die spürbare Gefahr in der Luft ließ nach. Sie war das Böse in Kilkenny, wie
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