Blutrote Sehnsucht
Sein Blick wirkte noch immer entrückt, und er ließ die Schultern hängen. »Ich glaube, du hattest recht«, sagte er erschöpft.
»Ist dir das schon mal passiert?«
»Nein. Ich habe einmal Glas geschmolzen.« Eine lange Pause folgte. »Ich habe Steine zerspringen lassen und ...« Wieder schwieg er eine Weile. »Ich entzündete ein Feuer in feuchtem Laub und habe einen Fels gesprengt.« Erneut brach er ab, bevor er hervorstieß: »Aber so etwas nicht.«
Gedämpfte Schritte wurden auf der feuchten Erde laut. Ann blickte auf. Das schwere Seemannsschwert gezückt, stand Kilkenny vor ihnen. Sein Gesicht war so weiß wie seine Schalkrawatte. Er hob das Schwert. »Im Namen der Zukunft unserer Spezies lösche ich das Böse aus.« Sein schottischer Akzent war jetzt noch ausgeprägter als zuvor.
Stephan hob den Kopf. »Nicht ich bin es, der Vampire erschafft, Kilkenny.« Er war erschöpft, und Ann begriff, dass sie an diesem Abend keine weitere Demonstration seiner Macht sehen würde, ob mit oder ohne ihre Hilfe, obwohl seine Wunden schon verheilten. Stephan ließ sie los und rappelte sich keuchend auf. Sie warf Kilkenny einen Blick zu. Er wirkte frisch und ausgeruht. Wahrscheinlich hatte er sich für diesen Fall zurückgehalten. Ann fragte sich, warum er Stephan mit seinem mächtigen Schwert nicht schon den Kopf abgeschlagen hatte. »Du bist derjenige, der böse ist«, beschuldigte Stephan ihn.
»Wenn die Absicht rein ist, ist die Erschaffung von Vampiren nichts Verwerfliches.«
Stephan rang sich ein verächtliches Schnauben ab. »Rein! Menschen ausbluten zu lassen? Meinst du diese Art von ›rein‹?«
»Wir bluten niemanden aus.« Stephans Vorwurf musste Kilkenny schwer getroffen haben, wenn er sich verteidigte. »Wir sind die Ausgestoßenen, die Gejagten! Wir wollen nichts weiter, als hier ein Heimatland für Vampire zu erschaffen, eins, das stark genug ist, um der Tyrannei von Rubius und Mirso widerstehen zu können. Und du bist ein Büttel seiner Tyrannei.«
Ann war schockiert. Kilkenny dachte, Stephan sei das Übel? »Ich habe gesehen, wie der Mann, der heute Nacht neben Ihnen stand, eine Frau aus meinem Dorf getötet hat«, sagte sie anklagend.
»Morde hat es hier überall gegeben, Mann«, sagte Stephan. »Deine Anhänger waren eine Bande von Mördern.«
Kilkennys Augen verengten sich. »Du lügst.« Aber seine Lippen zitterten. Wieder erhob er das Schwert, doch er biss sich auf die Lippe und zögerte.
Er will uns gar nicht töten , dachte Ann erstaunt . Und er glaubt auch nicht, dass seine Anhänger töten würden. Was für eine Art von böser Macht soll das sein?
Und dann dämmerte es ihr plötzlich. Dieser Mann war ein Idealist. So idealistisch wie Stephan, als er hatte beweisen wollen, dass erschaffene Vampire so gut wie geborene Vampire waren. Also ...
»Na, komm schon, Kilkenny, lass es uns mit einem fairen Kampf beenden, von Mann zu Mann!« Das war Stephans einzige Chance. Aber Kilkenny würde sich nie dazu bereit erklären. Warum sollte er auch den Vorteil seines Schwertes aufgeben?
»Nach der Zurschaustellung deiner Macht eben? Ich glaube, dass das Schwert den Waffen, über die du verfügst, nicht einmal ebenbürtig ist.« Kilkenny wirkte misstrauisch, aber entschlossen. Ann erkannte plötzlich, dass er glaubte, er sei es, der heute Nacht unterliegen würde. »Immerhin bist du einer der sehr, sehr Alten.«
Trotzdem musste sie Stephans Partei ergreifen. »Sehen Sie nicht, dass er verletzt ist?«
Kilkenny musterte Stephan, der immer noch keuchte und nach Atem rang. Die Wunden mochten verheilen, doch seine Kraft schien er verbraucht zu haben.
Das Schwert fiel klirrend zu Boden. Ann legte den Kopf zur Seite und krauste nachdenklich die Stirn. War es möglich ...? Konnte Kilkenny ein Mann von Ehre sein? Bevor die beiden Kontrahenten aufeinander losgehen konnten, richtete sie sich auf und wagte das Einzige, worin sie unvergleichlich war.
Sie trat zwischen sie und berührte beide gleichzeitig.
Sofort war Kilkenny wie ein offenes Buch für sie: seine Kindheit als verachteter irischer Einwanderer in Schottland, wo er als Neffe eines irischen Adligen, dessen Mutter unter ihrem Stand geheiratet hatte, erzogen worden war wie ein Aristokrat. Dennoch war er arm wie eine Kirchenmaus gewesen und von seinen reicheren Verwandten geächtet worden. Sie erkannte seinen Groll darüber, dass Iren Bürger zweiter Klasse waren, die nicht einmal wählen durften, weil sie katholisch waren. Ann sah Kilkennys
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