Blutrote Sehnsucht
Ann nun erkannte.
Komisch, aber er hatte gar nicht böse ausgesehen. Lebensüberdrüssig, müde, jedoch entschlossen. Widerstrebend fast. So hatte er gewirkt. Das Pferd verlangsamte von selbst das Tempo, als sie Bucklands hinter sich ließen. Anns Herzschlag jedoch beschleunigte sich. Was dachte sie sich eigentlich?
Sie zügelte das Pferd so brüsk, dass es sich fast auf die Hinterbeine setzte, als es jäh den Schritt verhielt. Entschlossen wendete Ann den Wagen. Sie konnte Stephan nicht allein im Kampf mit sechs Vampiren lassen. Es war undenkbar, daheim in ihrem Kinderzimmer zu sitzen, auf Nachrichten über das Massaker in Bucklands Lodge zu warten und sich zu fragen, ob sich unter den aufgefundenen Leichen auch Stephans befand. Sie musste bleiben, ob sie den Horror sehen wollte oder nicht. Ann trieb Max mit einem Zungenschnalzen an, aber der Haflinger tat nur ein paar unwillige Schritte, bevor er schnaubend rückwärts ging. »Komm schon«, sagte sie leise. »Komm, mein Junge!« Doch er schüttelte den Kopf und schnaubte wieder, als wollte er klarstellen, dass er nicht zu dem Zimtgeruch und den rot glühenden Augen in der Dunkelheit zurückkehren würde.
Resigniert sprang Ann vom Wagen, raffte mit einer Hand ihre Röcke und begann, den Weg zurückzulaufen. Gott stehe mir bei, flehte sie stumm. Lass mich nicht zu spät kommen!
Zu spät wozu? Ann keuchte atemlos, im gleichen Rhythmus mit dem dumpfen Aufschlagen ihrer Füße auf der weichen Erde und dem Pumpen ihres Herzens. Sie wusste nicht, warum; sie wusste nur, dass sie bei Stephan sein musste. Der Weg schlängelte sich durch das Dunkel. Aber sie hatte keine Zeit für Kurven, und so bog sie von der schmalen Straße ab und stolperte in den Wald hinein. Zweige rissen an ihrer Kleidung. Der aufgehende Mond warf die ersten Strahlen in den Wald. Ann drängte sich durch das Unterholz und hoffte, nicht über einen halb vergrabenen Stamm zu stolpern. Der Geruch von Vermoderung und grüner Vegetation, feuchten Steinen und faulendem Holz umhüllte sie.
Knurrende Geräusche und Schmerzensschreie zerrissen die Nacht. Sie kam zu spät! Mit letzter Kraft warf sie sich durch eine Wand aus undurchdringlich dunklem Dickicht und stürzte auf die Lichtung vor dem Haus hinaus. Die offene Fläche war von wildem Kampfeslärm erfüllt. Im Licht des Mondes sah sie Stephan, der sich inmitten herumwirbelnder Körper fast zu schnell bewegte, um ihn wahrnehmen zu können. Aber was sie deutlich wahrnahm, war der metallische Geruch von Blut. Stephan hatte die Ärmel aufgerollt, und sie konnte die dunklen Blutflecken auf dem weißen Stoff seines Hemdes sehen.
Ihr Herz zog sich zusammen. »Stephan«, flüsterte sie und merkte dann, dass sie es geschrien hatte. Ein Mann stand ein wenig abseits und beobachtete das Kampfgetümmel. Es war Kilkenny. Sie bemerkte das Summen von Macht in der Luft. Rote Augen glühten.
Wie ein Kontrapunkt zu all dem fieberhaften Treiben taumelte langsam eine Gestalt aus der sich wild drehenden Masse. Ein Kopf rollte auf Ann zu, mit Augen, die noch blinzelten, und aufgerissenem Mund. Ann kreischte auf und fuhr entsetzt zurück. Aber sie konnte den Blick nicht von dem grausigen Anblick abwenden, bis sie ein schmerzerfülltes Stöhnen hörte, das sie als Stephans erkannte. Erschrocken suchte sie das Getümmel nach ihm ab. Ein weiterer Angreifer fiel, auch dieser ohne Kopf. Nun waren es nur noch drei und Stephan. Das Hemd war ihm vom Leib gerissen worden, und sie konnte die furchtbaren Verletzungen an seinem Oberkörper sehen. Sein Bauch war aufgeschlitzt. Aus einem Dutzend klaffender Risse sickerte Blut. Anns Verstand wusste, dass sein Gefährte diese Wunden heilen würde, aber ihr Herz zog sich vor Entsetzen über die verheerenden Verletzungen zusammen. Ein Angreifer sprang ihn an. Etwas glitzerte im Mondlicht. Ein Messer! Es traf Stephans Kehle, und aus der Wunde spritzte Blut. Niemand konnte eine derartige Verwundung überleben! Stephan torkelte zurück und wankte dann mit letzter Kraft die flachen Stufen zur Eingangstür hinauf.
Gegen ihren Willen folgte Ann ihm. Stephan! Er warf ihr einen Blick zu. Diese eine winzige Unaufmerksamkeit genügte, und schon sprang einer seiner Angreifer ihm hinterher und ergriff sein Haar. Das Monster begann, Stephans Kopf zu verdrehen, ein weiteres näherte sich ihm mit einer langen Klinge, die im silbrigen Schein des Mondes immer wieder hell aufblitzte. Ann rannte weiter. Es blieb keine Zeit für Zweifel oder Skrupel.
Als
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