Blutrote Sehnsucht
Dienstbotenquartieren brannte Licht, und ein schwacher Schimmer drang aus der Kapelle – vermutlich von den Kerzen für den dort aufgebahrten Toten. Aber draußen war es eine völlig andere Sache. Stephan entdeckte Wachen um das Haus, einige von ihnen mit brennenden Fackeln. Um ihn, Stephan Sincai, fernzuhalten? Um Van Helsing zu beschützen? Dieser Narr musste doch wissen, dass ein paar Wachen ihn nicht aufhalten konnten.
Während er noch das Haus beobachtete, trabte ein Pferd die Einfahrt hinauf. Der Reiter war Van Helsing. Stephan hatte ihn schon lange erkannt, bevor eine der Wachen ihre Fackel hob und ihn anrief: »Halt, wer da?«
»Der zukünftige Besitzer dieser Hütte«, gab Van Helsing scharf zurück und stieg aus dem Sattel. »Lasst mich durch!«
»Na, wenn das nicht Mr. van Helsing ist«, sagte ein anderer Wachmann, der gemächlich heranschlenderte. Auch mehrere andere versammelten sich schon. Sie schienen ein rauer Haufen zu sein mit ihren zum Teil gebrochenen Nasen und den derben Gesichtern. »Was haben Sie hier mitten in der Nacht zu suchen?«
»Ich bin gekommen, um meine Cousine zu sehen.« Van Helsing war betrunken.
»Tja, aber sie hat uns befohlen, Ihnen auszurichten, dass sie Sie nicht sehen will«, erwiderte der Anführer dieser nicht sehr eindrucksvollen Truppe von Beschützern. Er packte Van Helsing an den Schultern, um ihn umzudrehen. Der Lump entwand sich seinem Griff, geriet aber ins Stolpern.
Dann hatte Ann ihn also doch in die Wüste geschickt! Gratuliere, dachte Stephan. Ich wusste ja, was in dir steckt.
»Sie denkt, sie ist zu gut für mich?«, murmelte Van Helsing und straffte sich in übertriebener Weise. »Das Weibsbild hat sie nicht mehr alle!«
»Ich finde es sehr vernünftig von der Frau, dass sie nicht will, dass Sie sich hier herumtreiben«, bemerkte einer der anderen Wachen.
»Verschwinden Sie, oder die Jungs hier werden dafür sorgen, dass Sie morgen einen noch viel dickeren Kopf haben, als er es vom Trinken ohnehin schon sein wird.« Der Anführer der Männer machte eine drohende Bewegung, die Van Helsing sichtlich zusammenzucken ließ.
»Na schön«, sagte er, um nicht ganz das Gesicht zu verlieren. »Dann werde ich sie morgen früh besuchen.« Er warf einen Blick zum Haus hinauf. »Das Biest.« Er schwankte, als er sich mit verschwörerischer Miene vorbeugte. »Am Ende wird sie mich doch nehmen müssen. Ich habe Freunde. Sie werden ihr keine andere Wahl lassen.«
»Lassen Sie mich Ihnen helfen, Mann«, meinte eine der Wachen grinsend. Ein anderer Mann hielt die Zügel des Pferdes, während Van Helsing sich abmühte, den Fuß in den Steigbügel zu setzen. Zwei Wachen wuchteten seinen Hintern hoch und schafften es irgendwie, ihn in den Sattel zu bugsieren. Dann ließ er sein Pferd im Schritt den Weg hinuntertraben, wobei er gefährlich von einer Seite zur anderen schwankte. Die Wachmänner kehrten lachend zu ihren Stellungen zurück.
Stephan war nicht so sicher, ob er ihren Optimismus teilte. Van Helsings Haltung war bei seiner Ankunft eben wesentlich sicherer gewesen. Der Mann spielte offenbar nur den Betrunkenen. Aber das machte nichts. Stephan hatte keine Zeit für ihn. Er konnte spüren, wie Ann in seinen Armen zitterte, und zog besorgt die Augenbrauen zusammen. Hatte sie bereits Fieber? Das war zu früh! Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Er blickte zum dunklen dritten Stock hinauf und rief seinen Gefährten.
Sowie Stephan und Ann in dem kleinen Dachzimmer landeten, legte er sie auf das Bett. In diesem Bett hatten sie sich geliebt. Hier hatte sie ihm ihre Jungfräulichkeit geschenkt und die Hoffnung, dass sexuelle Beziehungen mit einer Frau – oder jedenfalls mit dieser Frau – keine beschämende Tortur waren, sondern ein kostbares Geschenk. Es war wie ein Wunder, dass er sie nicht verletzt hatte. Und wenn er durch den Liebesakt geschwächt gewesen war für seine fürchterliche Aufgabe, so war er während des Kampfes stärker gewesen als je zuvor – was auch ein Geschenk von Ann war. Gemeinsam hatten sie ... was? Er war sich immer noch nicht sicher, was genau geschehen war.
Stephan betrachtete sie. Ihr silberblondes Haar lag ausgebreitet auf dem Kissen, ihre Haut war blass wie Pergament und glänzte von einem feinen Schweißfilm. Ann hatte recht gehabt mit dem, was sie über seine Macht gesagt hatte. Sich in diesem letzten Moment zu öffnen, war sogar noch bezwingender gewesen als Unterdrückung. Oder vielleicht hatte seine Macht sich auch nur so sehr
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