Blutrote Sehnsucht
Stephans Augen füllten sich mit Tränen. Er riss sich den Kragen und den in Fetzen hängenden Ärmel ab, und als er einen Blick auf Ann riskierte, sah er ihre aufmerksamen grauen Augen auf sich gerichtet. Schnell befeuchtete er einen Lappen in ihrer Waschschüssel und begann, rücksichtslos seine Haut zu schrubben. Er wollte nicht länger so widerwärtig aussehen.
Stephan erschrak über die leichte Berührung seines Ellbogens, und als er sich umdrehte, stand Ann so dicht hinter ihm, dass er das Blut in der Ader an ihrer Kehle pochen sehen konnte. »Lass mich Polsham rufen. Er soll heißes Wasser für dich heraufbringen lassen. Ein Bad würde dir guttun«, sagte sie.
Fast ein bisschen zu nachdrücklich schüttelte er den Kopf. »Niemand braucht zu wissen, dass ich hier bin.«
Darauf streckte sie lächelnd die Hand nach dem Waschlappen aus. »Dann lass mich dir helfen!«
Das Herz schlug Stephan bis zum Hals, als sie ihm bedeutete, sich auf den kleinen Schemel zu setzen. Dann nahm sie ihm den Lappen ab, tauchte ihn in das Wasser und wrang ihn aus. Sie begann mit Stephans Rücken. Während sie mit dem feuchten Tuch über seine Haut fuhr, berührte sie eine seiner Schultern mit der bloßen Hand. Ihr Fieber hatte einstweilen nachgelassen, aber ihre Berührung versengte ihn noch immer. Sie sagte nichts, und er saß kerzengerade da, mit angespannten Muskeln, als könnte er so die Sanftheit ihrer Berührung ausblenden. Ann war krank, verdammt noch mal – da würde er sich von ihrer Zärtlichkeit doch nicht zu einer sexuellen Reaktion verleiten lassen! Wo war das Training der Töchter Rubius’, wenn er es brauchte?
Rubius’ Töchter!
Sie würden ihn jagen, wenn nicht sofort, dann nachdem sie Kilkenny aufgespürt und erledigt hatten. Ann kam um ihn herum und kniete sich vor ihn hin, um das Blut von der Kopfverletzung abzutupfen. Nachdem Rubius’ Töchter ihn getötet hatten, würden sie auch Ann umbringen. Schutzlos würde sie ihnen gegenüberstehen. Er verwandelte sie nur, um sie dann der Grausamkeit der Schwestern Deirdre und Freya zu überlassen.
Ann spülte das Tuch wieder aus und wusch ihm Brust und Bauch. Stephan versuchte, sich von seinem Verlangen, sich umzudrehen und sie in die Arme zu nehmen, abzulenken. Er musste darüber nachdenken, wie er sie beschützen könnte. Das Beste wäre, wenn sie sich in die Höhle zurückzogen. Hier auf Maitlands würden die Schwestern ihn mit Sicherheit als Erstes suchen, und er brauchte genügend Zeit, um Ann volle Immunität zuteilwerden zu lassen.
Und dann musste er sich den Schwestern stellen. Besser, er opferte sich selbst, als dass sie ihn mit Ann zusammen fanden. Er hasste es, sie in ihrem neuen Zustand allein zu lassen, aber er konnte sie zu Beatrix schicken, damit sie Ann zur Seite stand. Lieber das als zu riskieren, dass es zu einer Konfrontation zwischen ihr und Rubius’ Töchtern kam. Sie durften nie von Ann erfahren.
21. Kapitel
A nn ließ die Hände über Stephans Körper gleiten und wunderte sich, dass die schwerwiegenden Verletzungen, die er vor wenig mehr als einer Stunde erlitten hatte, jetzt nur noch an der rosafarbenen neuen Haut darüber zu erkennen waren. Einige waren sogar schon vollständig verschwunden. Das Gefühl der seidig glatten Haut über harten Muskeln entflammte Ann mehr, als das Fieber es vermocht hatte.
Sie wusste, was vor ihr lag: das Unwohlsein, das quälende Verlangen nach Blut, die Last der Ewigkeit. All das hatte sie durch Stephan bereits mitbekommen. Dennoch konnte sie nicht wirklich wissen, wie sie das alles verkraften würde. Würde sie dem Wahnsinn verfallen, dem so manche neu erschaffene Vampire erlagen, wenn ihnen bewusst wurde, dass ihr Zustand unumkehrbar ist?
Möglich. Aber seltsamerweise war es nicht das, was Ann beunruhigte. Was sie viel mehr interessierte, war, wie sie den Mut gefunden hatte, sich selbst zu infizieren. In der Hitze des Moments hatte sie sich von ihrem Zorn zu dieser extremsten aller Entscheidungen hinreißen lassen, ohne auch nur die Konsequenzen zu bedenken. Die Wut hatte ihr gutgetan. Wann war sie schon einmal wütend auf ihren Onkel oder die Dienstboten gewesen? Selbst für Van Helsing hatte sie nichts als Furcht empfunden. Die Wut, die aus ihr herausgesprudelt war, bevor sie die Hand an Stephans blutige Schulter gelegt hatte, war überaus befreiend gewesen. Hatte sie sich in gewisser Weise nicht immer als Opfer ihrer Gabe gesehen, gefesselt, eingeschränkt und außerstande, auf ihr eigenes
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