Blutrote Sehnsucht
hob eines ihrer Lider an und schwenkte die Kerze vor ihren Augen. Die Pupille verengte sich nicht. Er klopfte ihr an die Wange, und als auch das keine Reaktion erzeugte, kniff er sie. Aber selbst das half nicht.
Das ließ nichts Gutes ahnen. Er hatte schon Menschen gesehen, die derart weggetreten waren. Doch wie mochte es bei ihr dazu gekommen sein?
Er blickte sich um und versuchte zu rekonstruieren, was geschehen war. Das Buch, die flackernden, fast völlig abgebrannten Kerzen ... Jetzt erinnerte er sich wieder. Die Frau benutzte diese Höhle als Refugium. Sie musste ihn gesehen haben, als er hier erschienen war. Dann war er von dem Schmerz und Blutverlust offenbar ohnmächtig geworden. Was für einen Anblick er geboten haben musste! Er blickte an sich herab und schüttelte den Kopf. Seine Kleider waren zerfetzt, die klaffenden Wunden darunter jedoch nur noch eine Erinnerung. Nur schmale rosa Linien und neue Haut waren geblieben. Aber auch diese Male würden bald verschwunden sein.
Stephan schluckte, weil seine Kehle sich unangenehm eng anfühlte. Unwillkürlich zog er an seiner Krawatte, bevor er sich erinnerte, dass er keine getragen hatte. Doch da war ein Tuch um seinen Hals, das sich anfühlte wie ein Verband. Er öffnete den Knoten, und eine blutige Kompresse fiel zu Boden. Verwundert sah er die Frau an, die er noch immer in den Armen hielt. Sie hatte ihn verbunden. Nach allem, was sie gesehen haben musste? Das war sehr couragiert von ihr. Und barmherzig. Er konnte sich nicht einmal erinnern, wann jemand das letzte Mal barmherzig zu ihm gewesen war.
Vorsichtig legte er sie auf den Höhlenboden. Das Beste war, sie hierzulassen, bis sie sich erholt haben und wieder zu sich kommen würde. In der Zwischenzeit versuchte er, einen klaren Kopf zu bekommen. Der Vampir, der entkommen war, würde zu Kilkenny gehen. Das bedeutete, dass Callan Kilkenny sich entweder selbst auf die Jagd nach ihm machen oder andere seiner Armee schicken würde. Vielleicht viele andere. Aber Stephan war fast sicher, dass er selbst kommen würde, um seine Nemesis aus der Welt zu schaffen. Das war nicht das, was Stephan geplant hatte, doch vielleicht trotzdem gar kein schlechter Ausgang. Vom Jäger war er zum Gejagten geworden. Auch gut. Er rief seinen eigenen Untergang herbei. Aber es war ein sicherer Weg, Kilkenny ausfindig zu machen.
Das hieß jedoch, dass Stephan in Cheddar Gorge warten musste und sich nicht erlauben konnte, das Misstrauen der Dorfbewohner zu wecken, was seine wahre Natur anging. Er erinnerte sich, die junge Frau sagen gehört zu haben, sie könne Dinge über Menschen spüren, wenn sie sie berührte. Ihn hatte sie auf jeden Fall berührt. Ob sie jetzt wohl wusste, was er war?
Das Klügste wäre, sie gleich hier zu töten. Der Puls an ihrem zarten Nacken schlug ohnehin nur noch sehr schwach. Rubius würde es tun. Auch seine Töchter würden nicht zögern, sie umzubringen. Wieder kam er sich wie ein Versager vor, weil er nicht dazu in der Lage war. Aber er konnte sich nicht sicher sein, dass sie sein Wesen erkannt hatte, und sie daher auch nicht auf die bloße Möglichkeit hin töten, dass sie beim Erwachen wissen würde, dass er ein Vampir war. Der Tod einer Vielzahl unschuldiger Menschen konnte ihm angelastet werden. Er konnte sich nicht noch einen erlauben.
Besorgt blickte er sich zu den Kerzen um. Sie würden bald ausgehen. Auch die Fackel, in deren Licht sie gelesen hatte, war bereits erloschen. Die Frau würde im Dunkeln erwachen und sich ängstigen. Könnte sie ohne Licht überhaupt den Weg nach draußen finden? Sein Blick glitt wieder zu ihr. Irgendwie hatte er den Eindruck, sie zu kennen, sie immer schon gekannt zu haben. Er spürte Güte, Aufrichtigkeit und große Einsamkeit in ihr, aber unter all dem auch eine innere Stärke, die ihr zerbrechliches Äußeres Lügen strafte. Dabei war er ihr erst dreimal begegnet. Was konnte er schon wirklich über sie wissen? Und dennoch wurde er das Gefühl nicht los ...
Stephan holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Er hatte einen wirklich dummen Plan.
Er hob sie auf, hüllte sie in den Umhang, der auf dem Boden lag, und trat die noch brennenden Kerzen aus. Sie fühlte sich unglaublich klein und zierlich an an seiner Brust. Eine Frau wie diese brauchte Schutz. Trotz der kühlen Luft in der Höhle war sie angenehm warm an seiner Brust. So warm, dass die Haut an ihrem nackten Arm seine Hand schon fast versengte. Seine Macht begann von selbst in ihm
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