Blutrote Sehnsucht
Regalen und ließ suchend den Blick darüber gleiten. Eine erstaunliche Vielfalt bot sich seinem Auge. Und nicht nur Schulbücher, wie man sie in einem Kinderzimmer erwarten würde. Oh, nein, hier gab es Bücher über Geschichte, die griechischen Klassiker, Bücher in französischer und italienischer Sprache, Marc Aurel, Cicero, Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften , Karamzins Geschichte des Russischen Reiches , Savigny, Dugald Stewart, Schopenhauer, Bells Idee einer neuen Anatomie des Gehirns, Davys Elemente der chemischen Philosophie und die modernen Dichter – Keats Endymion, Shelleys Der entfesselte Prometheus, Wordsworth’ Das weiße Reh von Rylstone und natürlich die meisten von Scotts Romanen, einschließlich seines neuesten, Ivanhoe ... Wer hätte gedacht, dass ein junges Mädchen so belesen war? Die Bücher mussten ihr gehören. Stephan nahm wahllos eines heraus, das rein zufällig ein Gedichtband war. Ritter Harolds Pilgerfahrt von George Gordon, Lord Byron. Er schlug es auf und las eine Strophe. Nicht schlecht. Die Lyrik war schwungvoll, gefühlvoll und manchmal noch ein bisschen mehr. Er las einen Teil von Canto IV:
Oh, Zeit! Der Schönmacher der Toten,
Schmücker des Verfalls, Tröster
und alleiniger Heiler, wenn das Herz geblutet hat:
Zeit! Der Berichtiger, wo unser Urteil irrt,
der Prüfer von Wahrheit, Liebe – einziger Philosoph,
wo alle anderen Wortverdreher sind – aus meiner Sicht,
die niemals fehlt, obwohl sie sich auch beugt –
Zeit, der Rächer! Zu dir erhebe ich meine Hände, meine
Augen und mein Herz ...
Ein schmerzliches Lächeln huschte über Stephans Lippen, und er fragte sich, wie alt dieser Poet wohl sein mochte. Wahrscheinlich noch sehr jung. Dieser Lord Byron befand sich jedoch schwer im Irrtum, was die Zeit anging. Weder heilte sie, noch rächte sie. Sie entzog einem langsam das Leben mit kleinen Verfehlungen und großen, mit eigenen und anderen gegen einen, mit Wunden, die niemals heilten und nur schwärten.
Stephan überflog noch einige andere Passagen. Vergebung. Der Held des Stückes bestrafte die, die sich gegen ihn versündigt hatten, mit Vergebung. Hatte der Verfasser einen gequälten Helden erschaffen wollen? Stephan schüttelte den Kopf. Der Junge wusste nicht, was Gequältsein war. Gequältsein war, wenn man selbst derjenige war, der um Vergebung bat, und niemand einem verzeihen konnte, nicht einmal man selbst. Dann gab es nur noch Buße ...
Das erste Grau des Morgens drang durch die Mansardenfenster. Stephan war erschöpft von den Erinnerungen. Das Beste wäre, jetzt zu gehen. Er fragte sich, ob er es ertragen könnte, eine weitere Nacht bei der reglosen kleinen Gestalt zu sitzen, die ihn trotz allem so erregte, dass er sich permanent in Selbstbeherrschung üben musste. Er stellte den Byron zurück ins Regal. Auch Bücher vermochten ihn anscheinend nicht abzulenken.
Leise trat er wieder ans Bett und sah Ann van Helsing prüfend an. Ihre Lippen waren wieder trocken. Er befeuchtete das Tuch, betupfte ihre Stirn damit und rieb ihre Lippen mit einer fettigen Substanz aus einem kleinen Tiegel ein, die wie Heilsalbe roch. Wie lange konnte man ohne Essen und Wasser auskommen? Womöglich würde Miss Ann einfach nach und nach verkümmern und nie wieder das Tageslicht sehen, das das Geburtsrecht ihrer Gattung war. Der Gedanke tat weh, denn all das war nur seine Schuld. Ordentlich faltete Stephan das feuchte Tuch zusammen und berührte noch einmal ihr Kinn. Eigentlich hätte er nicht wünschen dürfen, dass sie aus dem Koma erwachte, denn möglicherweise wusste sie ja, was er war. Wenn ja, würde er dann den Mut aufbringen, um das Nötige zu tun? Falls sie sich erholte, könnte sie sein nächster Fehler sein, und ein weiterer würde ihm die Rückkehr nach Mirso für immer verbauen. Schaffte er sie jedoch aus dem Weg, würde diese Schuld ihn noch viel mehr beflecken. Für einen Moment schloss er die Augen.
Es gab noch eine andere Möglichkeit. Vielleicht würde sie sich ja an nichts erinnern, wenn sie wieder zu sich kam. Stephan beschloss, es zu riskieren, mit dem Arzt zu sprechen, bevor er eine Entscheidung traf. Mit grimmig verzogenem Mund rief er die Dunkelheit herbei.
10. Kapitel
D ie Bevölkerung von Cheddar Gorge konnte nicht aufhören, über die Morde zu reden. Die zwanghaften Debatten der Leute darüber hielten Stephan wach. Als er es nicht mehr aushielt, sich auf seinem Bett herumzuwälzen, setzte er sich in einen Sessel. Ob mit Genuss
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