Blutrote Sehnsucht
mit ihnen zu verschmelzen, aber inzwischen wusste Ann es besser. Er würde hinuntergehen und nach ihrem Onkel sehen. Er hatte es versprochen. Und Sincai hielt seine Versprechen. Sie seufzte vor Erleichterung. Sie konnte sich auf ihn verlassen.
Ann war so müde. Vielleicht sollte sie Mr. Sincais Rat befolgen und schlafen. Aber nicht, bevor sie gehört hatte, wie es ihrem Onkel ging. Wer wusste, was mit Erich im Haus womöglich schon alles geschehen war?
Trotzdem kehrten ihre Gedanken zu Stephan Sincai zurück. Niemand wusste, dass er in ihrem Zimmer gewesen war. Die Dienstboten oder sogar Erich würden etwas so Skandalöses wie die Anwesenheit eines fremden Mannes bei Nacht in ihrem Zimmer ganz gewiss nicht dulden. Wie konnte er ausgerechnet in dem Moment ihres Erwachens hier gewesen sein? Konnte er wirklich drei Nächte hier gewesen sein? Bei Tageslicht konnte er sie jedenfalls nicht besuchen. Stephan Sincai schlief während des Tages und hielt sich von der Sonne fern.
Wie seltsam, dass sie all das akzeptierte! Aber andererseits akzeptierte sie ja immer die Menschen, die sie berührte. Es war unmöglich, sie nicht zu akzeptieren, wenn man all ihre Ängste kannte, ihre geheimen Wünsche, ihre Erfahrungen, schöne und schreckliche, die ihr Wesen ausmachten. Tatsächlich war es dann sogar beinahe so, als hätte man sie selbst erlebt. Welch tiefere Art von Verständnis könnte man für einen anderen haben? Sie konnte sogar akzeptieren, dass Stephan Sincai ein Vampir war. Doch das war ja auch nicht seine Schuld. Er hatte es sich nicht ausgesucht, ja, hätte sich vielleicht auch nie dafür entschieden, obwohl nicht einmal er sich dessen sicher war. Er schätzte den Durst nach Leben nicht, den der Gefährte in seinem Blut verursachte. Er lebte so intensiv! Er trank Blut, weil dieser Gefährte es verlangte, aber er tötete nicht, wenn er sich nährte. Ann blickte zurück durch die Jahrtausende. Einmal hatte er einem Menschen zu viel genommen und ihn, ohne es zu wollen, umgebracht. Doch danach war er am Boden zerstört gewesen. Das konnte sie ihm vergeben. Sie wunderte sich, dass sie keinen Abscheu empfand, wenn sie an die Art seiner Nahrungsaufnahme dachte, aber durch ihn hatte sie gespürt, wie es war, und für ihn war es nicht widerlich.
Stephan Sincai hatte jedoch getötet, und zwar mit voller Absicht und erst kürzlich, auf grauenvollste Art und Weise. Diesen Albtraum hatte sie erlebt. Die Szene in dem Jagdhaus wirbelte ihr durch den Kopf und ließ ihr jäh den Atem stocken. Er war dazu imstande gewesen? Sie spürte den Schmerz seiner Verwundungen, die unerträglichen Schuldgefühle über seine Taten, die Sicherheit, deswegen verdammt zu sein, die Unterdrückung seiner Gefühle. Aber er glaubte, dass er seine Gattung und auch die der Menschen schützte. Und ungeachtet dessen, was es seine Seele kostete, beabsichtigte er, erneut zu töten.
Zu müde, um darüber nachzudenken, was das für sie bedeutete, wandte Ann sich lieber wieder dem Umstand zu, dass er wahrscheinlich drei Nächte an ihrem Bett gesessen hatte. Warum? Welches Interesse konnte ein Mann wie Stephan Sincai an ihr haben, dass er sich die Mühe machte, so lange über sie zu wachen?
Ah! Seine Schuldgefühle! Sie waren die treibende Kraft hinter seinem Handeln. Er tötete Angehörige seiner Spezies, um seine Verbrechen zu sühnen – Verbrechen, die sie nicht verstand. Fühlte er sich schuldig, weil er ihre Ohnmacht ausgelöst hatte? War das der Grund, warum er Nacht für Nacht bei ihr geblieben war? Denn es war auf jeden Fall der Ansturm seiner Erlebnisse gewesen, was ihre tiefe Bewusstlosigkeit verursacht hatte.
Sie wandte den Kopf, als er aus dem Dunkel trat. Er hielt einen Suppenteller in den Händen.
»Ihr Onkel schläft ganz friedlich«, sagte er.
Erleichterung durchströmte Ann, und sie atmete tief ein und sah ihn an. Aus irgendeinem Grund kniff er den Mund zusammen und senkte den Blick auf den Teller. »Ich habe Ihnen etwas Fleischbrühe aus der Küche mitgebracht. Es würde Ihnen helfen, wieder zu Kräften zu kommen, wenn Sie etwas davon zu sich nehmen könnten.«
Ann nickte. Sie fühlte sich schon ein wenig besser. Vielleicht würde sie sich zum Essen sogar setzen können. Außerdem war sie es ihrem Onkel schuldig, ihre Kräfte schnell zurückzugewinnen. Sincai stellte den Teller ab und richtete die Kissen hinter ihr. Aber die Anstrengung, sich hinzusetzen, war doch zu viel für sie. Als er ihr den Löffel reichte, zitterte er in ihrer Hand,
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