Blutrote Sehnsucht
und Stephan nahm ihn ihr behutsam wieder ab und setzte sich neben sie. »Lassen Sie sich helfen!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht ...«
Er hob eine Hand. »Ich fasse Sie nicht an«, versprach er ihr mit einem kleinen Lächeln. »Ich werde Sie nur füttern.«
Ann nickte stumm und ließ es zu. Er war sehr sanft, was überraschend war, wenn man bedachte, wie stark er war. Er hatte einmal ein Boot aus einem aufgewühlten Fluss herausgehoben und eine mächtige Kathedrale mit der bloßen Kraft seiner Arme vor dem Einstürzen bewahrt. Grundgütiger! War das möglich? Sie warf einen verstohlenen Blick auf sein Gesicht.
Der Löffel hielt auf halbem Weg zu ihren Lippen inne. »Fürchten Sie sich nicht vor mir!«, sagte er mit einer Stimme, die wie ein leises, schmerzerfülltes Grollen war. »Ich weiß, das ist nicht leicht nach dem, was Sie gesehen haben. Aber Sie haben wirklich keinen Grund dazu. Ich werde Ihnen nichts zuleide tun.«
Sie kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. Du weißt, was für eine Art von ... Mann er ist, sagte sie sich. Mann? Ja, Mann. Sie sah ihm prüfend ins Gesicht. Ein guter Mann, trotz fast unmöglicher Begleitumstände. Ein Mann mit Prinzipien . Ann schöpfte tief Atem und nickte. »Das weiß ich.«
Er wirkte überrascht und sah ihr prüfend ins Gesicht. Dann schluckte er und hielt ihr den Löffel wieder hin. Langsam aß sie die Brühe. Es war eine einfache, nur noch lauwarme Rinderbrühe, die aber besser schmeckte als alles, was sie je gegessen hatte. Sie leerte den Teller bis auf den letzten Tropfen, und Stephan stellte ihn weg. »Können Sie jetzt schlafen?«
Unsicher blickte sie sich in dem dunklen Zimmer um. Und wenn ich nicht mehr aufwache?, dachte sie bang.
»Ich werde bei Ihnen bleiben und Sie im Morgengrauen wecken, wenn Sie möchten«, sagte er.
Hatte er ihre Gedanken gelesen? Aber nein, sie wusste, dass er das nicht konnte. War sie so leicht durchschaubar? Oder war es so, dass jemand mit seiner immensen Erfahrung erraten konnte, was andere dachten? Seine Erfahrung war in gewisser Weise jetzt auch ihre. Könnte sie sie ebenso verwenden, wie er es tat?
Sie kuschelte sich unter die Decke. Er hob das Buch auf und setzte sich wieder in den Sessel. Aber sie konnte sehen, dass er nur zu lesen vorgab, und lächelte im Stillen ein wenig. Dann schloss sie die Augen.
Lange vor Tagesanbruch schlich sich Stephan in die Küche hinunter und spülte den Suppenteller. Miss van Helsing lebte. Sie war bei Bewusstsein und würde bestimmt bald wieder auf den Beinen sein. Er war noch nie so erleichtert gewesen. So schnell er konnte, eilte er zu ihr zurück. Was er nicht wusste, war, wie viel sie durch ihre Berührung über ihn herausgefunden hatte. Mit Sicherheit erinnerte sie sich an das, was sie in der Höhle gesehen hatte – immerhin hatte sie ihn gefragt, ob es ihm besser ging. Vielleicht erinnerte sie sich ja auch nur an die Wunden, aber nicht daran, dass er plötzlich aus dem Nichts heraus erschienen war. Vielleicht hatte ihre Berührung ihr nicht verraten, dass er ein Vampir war. Oder sie hatte diesen Teil vergessen. Was ihn immer noch erstaunte, war, wie gut sie ihre Furcht vor ihm im Griff hatte. Wie konnte sie ihn akzeptieren, selbst wenn sie nur wusste, wie schwer er in jener Nacht verletzt gewesen war? Kein menschliches Wesen könnte sich von solchen Verwundungen erholen.
Als er sie jetzt betrachtete, während er vor ihr stand und draußen die Morgendämmerung herannahen spürte, wurde er sich eines weiteren Problems bewusst. Er hatte die Nächte bei ihr verbracht, um sicherzugehen, dass ihr nichts geschah, bis sie erwachte. Wenn Mrs. Creevy und Mrs. Simpson heute kamen, um sie zu pflegen, würden sie sehen, dass sie bei Bewusstsein war. Und dann wurde er nicht mehr gebraucht. Diese Erkenntnis ließ ihn sich irgendwie ... verloren fühlen.
»Miss van Helsing.« Ihre Augenlider flatterten.
»Miss van Helsing. Es wird gleich hell.«
Noch bevor sie die Augen öffnete, wandte sie sich in die Richtung, aus der seine Stimme an ihr Ohr geklungen war, und lächelte. Gott, wie dieses Lächeln ihm das Herz erwärmte! Er liebte dieses Lächeln so sehr, dass er sich gegen den Ansturm der Gefühle wappnen musste, der ihn bei seinem Anblick überkam. Sie öffnete langsam die Augen.
»Sie sind geblieben.« Ihre Stimme war melodiös, feminin und zart wie sie selbst.
»Das hatte ich Ihnen versprochen.« Stephan blickte zu dem heller werdenden Himmel hinter den Mansardenfenstern auf.
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