Blutrotes Wasser
Blick. Wieder fingen Lenas Knie an zu zittern. Scheiße, wo war sie jetzt wieder reingeraten? Sie drehte sich um, aber das Rote Meer war schon wieder zusammengeflossen. Böse Blicke. Schweigen und Aufmerksamkeit. Scheiße, die hatten das mit Moses wohl falsch verstanden. Nur der Weg nach vorne blieb frei. Lena schluckte krampfhaft ihre letzten Spuckereste hinunter. Keine Angst, redete sie sich ein. Hier sind Tausende von Menschen. Hier kann dir niemand etwas tun. Vorsichtig kletterte sie die kleine Bühne hinauf. Ging auf den schwarzen Mann zu – niemals hatte diese Bezeichnung besser gepasst. Wieder streckte er die Hand aus und deutete auf die Krone, dann auf sich selbst.
»Schon kapiert«, murmelte Lena und zuckte noch einmal zusammen, als sie den Jungen erkannte, der das Schmuckstück hielt. Ihr persönlicher Rucksack-Dieb. Schnaubend nahm sie ihm die Krone aus der Hand, die von Nahem richtig echt aussah. Janoschs Gesicht verfinsterte sich – offenbar passte ihm der Planwechsel nicht. Und Lena gestattete sich ein Grinsen. Aber nur eins. Sie sollte hier nicht länger bleiben als notwendig. Sie beugte sich über die Silbermaske, drückte, so fest sie konnte, die Krone auf den Schädel – hoffentlich tat das weh – und schnupperte plötzlich. Hielt inne und sog den Geruch ein. Bitter und erdig. Stinkig irgendwie. Lena starrte in die Augen hinter der Maske, suchte den Blick. Dann schnellte ihre Hand nach vorne, riss den Umhang beiseite und erkannte die Jacke. Das Knopfloch. Die Aster, die darin steckte.
»Imre?«, stammelte sie und taumelte.
18.48 Uhr, auf der Margaretenbrücke
»Schlechte Entscheidung«, tadelte Doktor Anday sich selbst. Denn er steckte fest: Auf der Brücke ging so gut wie nichts mehr. Er war eingekeilt zwischen den Menschen, die drückten und drängelten wie in einer überfüllten Hütte beim Après-Ski. Weil die Margaretenbrücke eine einzige Baustelle war, konnte man nur im Gänsemarsch laufen. Gott, war das eng! Anday fluchte, als er gegen das hohe Gitter gepresst wurde, das die Baustelle absperrte. Die ganze Brücke stand voll mit Baggern und kleinen Kränen, Presslufthämmern, Schubkarren, Betonmischern und tausenderlei Werkzeug.
»Sehr schlechte Entscheidung«, brummte der Arzt und quetschte sich einen Zentimeter vorwärts.
18.49 Uhr, vor dem Parlament
»Was zum dreigehörnten Teufel willst du?«, hatte der Kommissar die Blumenfrau angeraunzt.
»Dir was sagen«, hatte die Alte gegrinst.
»Ach, und was?«, fragte er jetzt. Hoffentlich wurde er die bald los. Frenyczek hatte sich von ihr ablenken lassen. Als er jetzt wieder zur Bühne schaute, stand da plötzlich die Tochter von diesem Österreicher. Lena.
Wieder zerrte die nervtötende Alte an ihm herum.
»Was?«, rief er noch einmal. Aber der Kommissar war nicht der Einzige, der brüllen konnte, denn die Blumenfrau schrie los, so laut, dass sich viele Köpfe zu ihr drehten, so schrill, dass sich Frenyczeks Ohrläppchen einzurollen drohten.
»Das da ist ein gemeiner Furz von einem Dieb!«, brüllte sie und zeigte auf die Bühne. »Und du, Jungchen, musst ihn verhaften.«
Dieb. Die Zahnräder drehten sich endlich wieder, Schraube fasste in Schraube, Puzzlestück passte an Puzzlestück. Wie in Zeitlupe drängte sich Frenyczek durch die Menge. Das Gellért-Bad. Das Parlament. Die Botschaft von F. S. Konnte das sein? Frenyczek tastete nach seinen Erinnerungen. »
Es wird Zeit, die Bäder der Reichen zu vergiften«,
hatte es im Bekennerbrief geheißen. Und dann?
Fürchtet die Krönung eines neuen Königs.
Mein Gott, wenn das stimmte … Was für eine Unverfrorenheit, dachte der Kommissar. Hier vor allen Leuten. Konnte das sein? Das eigentliche Ziel dieser Spinner: die Reichsinsignien? War das die echte Krone? Er fingerte nach der Waffe an seiner Seite. Lena drückte dem Maskierten die Krone aufs Haupt, stockte plötzlich und rief einen Namen. Der Mann in Schwarz schnellte hoch. Noch bevor Frenyczek die Pistole gezogen hatte, hatte der Frischgekrönte Lena zu sich herumgerissen und hielt ein Messer an ihre Kehle.
»Lass sie los«, brüllte der Kommissar und richtete seine Waffe auf ihn. Hundert Kinder und Jugendliche schoben sich, drängten sich vor ihm zusammen. Frenyczek wich einen Schritt zurück. Was sollte er tun? Auf Kinder schießen? Er tastete nach seinem Mikro. »Hier Grün 1, alle Teams sofort zu mir, Geiselnahme am Parlament, ich wiederhole, sofort …«
Dann stürzte die Welt ein.
19.01 Uhr, Kettenbrücke
Lázlos
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