Blutsäufer (German Edition)
war zu
stark. Zu schnell. Sie musste sich ihr fügen, wenn sie überleben wollte.
Eine Hand griff nach ihrem rechten Arm. Ein
geöffneter Armreif wurde um ihr Handgelenk gelegt. Der Armreif rastete ein.
Versuchsweise bewegte sie den Arm. Die Kette war viel länger, klackerte auf den
Boden. Sie hatte nun mehr Freiraum. Sicherlich eine Erleichterung ihrer
Gefangenschaft. Womit mochte sie dies in den Augen der furchtbaren Frau
verdient haben?
Gut, das war zweitrangig. Wichtig war: Sie
würde nun nicht mehr an der Wand hängen wie eine kuriose Jagdtrophäe, sie
durfte sitzen, in einer Ecke sitzen wie …
Sie hatte plötzlich ein Bild aus ihrer
Schulzeit vor Augen. Einmal musste sie in der Ecke stehen – warum, wusste sie
nicht mehr –, und um von dieser Schmach befreit zu werden, gab sie vor, dass
ihr übel sei. Es half ihr wenig. Die Lehrerin lief zu ihrer Bank, nahm den
Stuhl dahinter und trug ihn zu ihr. Sie hatte dann ungefähr zwei Drittel der
Doppelstunde wie eine Gebrandmarkte in der Ecke sitzen bleiben müssen. Und sich
überhaupt nicht richtig gut gefühlt. Seitdem saß sie nie wieder in Raumecken. Keine
zehn Pferde brachten sie in eine Raumecke. Bis heute …
Heute saß sie wieder in der Ecke wie das
kleine Mädchen, das sie einst gewesen war. Nur war die böse Frau diesmal keine
Lehrerin, dafür aber wirklich böse.
„Haben Sie den Ulli umgebracht?“, fragte sie
die Frau.
Die Vampirin war noch einmal weg gewesen,
hatte ein hockerartiges Gestell und eine riesige Kerze und – man mochte kaum
glauben, dass sie an so etwas Profanes denken würde – eine Rolle Klopapier
mitgebracht. Die Rolle Klopapier lag nun neben dem Nachttopf, das Gestell stand
mit der Riesenkerze obendrauf mitten im Raum. Die Kerze brannte und verströmte
einen frischen Duft. Roch nach Kirsche oder nach einem ganzen Kirschbaum. Mit
dem Duft sah Karla eine Reihe Kirschen durch die Luft kreisen wie die
Miniatur-Nachbildung eines Sonnensystems. Sie zerplatzten wie Seifenblasen, eine
nach der anderen, doch ihr Duft blieb.
Die blöde Kuh antwortete ihr nicht. Sah so
aus, als ob sie gleich gehen würde. Karla bereitete sich tapfer auf mehr als
eine Doppelstunde In-der-Ecke-Sitzen vor. Aber einmal würde sie noch fragen.
Fragen kostet nichts, war der Lieblingsspruch ihrer Mutter.
„Ist der Ulli hier im Haus?“
Karla erschrak, als sie plötzlich direkt in
die Augen der Frau starrte. Eben hatte sie doch noch mindestens drei Meter von
ihr entfernt gestanden. Die ist nicht von dieser Welt, dachte sie.
„Willst du deinen Ulli sehen? Möchtest du ihm
die Hand schütteln?“
Fast hätte Karla mit dem Kopf geschüttelt, denn
sie hatte so eine Vorahnung. Hinter dem Angebot steckte bestimmt etwas arg Unerfreuliches.
Sie nickte halbherzig, und als sie dann allein
in dem Kellerraum war, fiel sie in einen kurzen Erschöpfungsschlaf.
Aus dem sie hochschreckte, nachdem ihr etwas
auf den Kopf fiel.
Ihre Lider flackerten. Da war niemand. Außer
dem Ding auf ihrem Kopf. Fühlte sich seltsam an. Und rutschte ihr plötzlich ein
Stück in die Stirn. Vor ihrem linken Auge sah sie etwas Langes, Dickes hängen.
Wie ein Bein von einer Vogelspinne. Oder wie sie sich das Bein einer
Vogelspinne vorstellte.
Karla sprang nicht auf und lief nicht weg.
Ging mit der Kette auch schlecht.
Sie erstarrte auf ihrem Hocker.
Sie wollte danach greifen – und wollte es
nicht. Nichts übereilen, dachte sie, immerhin bewegt es sich nicht. Und sie
hatte ja Zeit, sie hatte alle Zeit der Welt.
Es war ein Kräftemessen zwischen ihrer
Neugierde und ihrer Angst. Noch überwog die Angst. Die Angst ließ sie weiter
starr auf dem Hocker verharren.
Bis sie einen stechenden Schmerz im Nacken
spürte. Um dem Schmerz entgegenzuwirken, drehte sie den Kopf langsam nach rechts
und links. Bei den Drehungen knickte sie ihn vorsichtig ein, einmal weiter, als
sie es wollte.
Das war ein Fehler. Oder befreite sie von
jeglicher Entscheidung.
Sie hörte ein Platschen. Wasser spritzte zu
ihr hoch, einzelne Tropfen bis hinauf ins Gesicht. Statt nach unten zu schauen
– das traute sie sich noch nicht –, fasste sie sich über den Schädel. Da war
nur ihr Haar, nichts anderes. Da war nichts geblieben, keine glibberige Masse,
wie sie es befürchtet hatte. Dass ihr Haar sich fettig anfühlte, war wohl kaum
dem Ding anzulasten, das darauf gelegen hatte.
Karla atmete tief ein und beugte ihren Kopf
ein Stück vor.
Sie fing nicht an zu schreien. Ein erstickter
Schluchzer war alles, wozu sie
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