Blutsauger
Instinkt signalisierte ihm plötzlich, nicht allein zu sein. Irgendetwas war da. Etwas, das an dem Bewuchs entlanggestreift war.
Brugger hielt inne, drehte seinen Kopf zuerst nach links und dann, so weit es ging, nach rechts. Doch die farblose Nacht gab ihr Geheimnis nicht preis. Wenn jemand regungslos zwischen dem Bewuchs lauerte, war er mit der Finsternis verschmolzen.
Für einen Augenblick wünschte sich Brugger, eine Lampe mitgenommen zu haben. Er hätte sich vergewissern können, ob ihn jemand beobachtete. Aber diesen Gedanken verscheuchte er sofort wieder, weil solche Überlegungen an seiner jetzigen Situation nichts mehr änderten. Außerdem hätte er mit einer Lampe in der Hand eine gute Zielscheibe abgegeben.
Zielscheibe? Er erschrak über dieses Wort, worauf sich seine Pulsfrequenz ein weiteres Mal erhöhte. Abhauen. Weg, einfach davonrennen, das war sein heimlicher Wunsch. Hau ab. Verschwinde. Du lässt dich auf ein gefährliches Spiel ein. Was sind ein paar 100.000 Euro, wenn sie dich morgen früh tot im Sand finden?
Wie in Trance ging er weiter. Die Lichter. Meloneras. Da pulsierte das Leben, die Zivilisation. Hier in der Wüste, in dieser lebensfeindlichen Umgebung, saß er in der Falle. Umdrehen? Oder Flucht nach vorn? Natürlich war Umdrehen besser, denn noch war ihm der hell erleuchtete Hotelkomplex näher als Meloneras.
Er blieb stehen. Wieder ein undefinierbares Geräusch, als ob ein kleines Tier durch den Bewuchs streifte.
Brugger entschied sich zum Weitergehen. Allerdings spürte er, wie seine Knie weich geworden waren und er innerlich zitterte. Sobald er diesen Abschnitt durch die Sandberge bewältigt haben würde, konnte er auf übersichtliches Gelände hoffen. Er war diesen Pfad oft genug gegangen, um seinen Verlauf nachvollziehen zu können.
Doch in diesem Moment traf ihn etwas am Kopf – das aus dem Nichts herangeflogen zu sein schien. Etwas, das von oben auf ihn herabstürzte, ganz lautlos, als sei’s eine unsichtbare Energie. Entsetzen und Panik, Todesangst und schiere Ohnmacht manifestierten sich zu einem elektrischen Schlag, der seinen ganzen Körper für den Bruchteil einer Sekunde lähmte. Etwas hatte Hinterkopf und Nase gleichzeitig gestreift, etwas Festes und Flexibles gleichermaßen, etwas, das sich blitzartig um seinen Hals legte. Etwas, das sich fest in seine Haut grub, das ihm die Luft raubte, die Stimme und für einen Augenblick auch die Sinne. Reflexartig griff er nach diesem dünnen Objekt, das sich immer tiefer und gnadenloser in seinen Hals fraß. Er versuchte, es mit den Fingernägeln zu fassen und wegzureißen, allerdings hatte es sich schon viel zu tief in die weiche Haut gegraben. Und der Druck wurde stärker, während er hinter sich den warmen Atem einer Person wahrnahm.
Er brauchte Luft. Luft. Nur Luft. Schon spürte er, wie ihn von Sekunde zu Sekunde die Kräfte verließen. Er rang vergeblich nach Luft, röchelte und versuchte, sich mit der unbändigen Lebenskraft eines Verzweifelten dem drohenden Tod zu entziehen. Aber seine reflexartigen Bewegungen schnürten ihm den Hals nur noch fester zu.
48
Auf der winterlichen Hochfläche der Schwäbischen Alb waren inzwischen Häberle, Kerstin und zwei Streifenbeamte eingetroffen. Linkohr hatte vor dem Gebäude im Auto auf sie gewartet.
Er stieg in die Kälte hinaus, warf Kerstin einen freundlichen Blick zu, ohne erkennen zu können, ob sie ihn erwiderte, und erläuterte kurz den Weg zur Rückseite des Hauses. Häberle knöpfte sich seine Winterjacke bis zum Hals zu, brubbelte etwas über den stärker gewordenen Schneefall und folgte dem jungen Kollegen. Die beiden Streifenbeamten wies er an, sich im Hinterhof zu postieren und das Objekt von außen zu sichern.
Als sie die Rampe erreicht hatten, stellte Linkohr fest, dass die beiden Männer im gegenüberliegenden Büro wieder vor ihrem Computer saßen. Gleich würden sie vermutlich auf das Geschehen aufmerksam. Denn Häberle und die Uniformierten knipsten starke Handlampen an, um die Laderampe und die Spuren im Schnee auszuleuchten.
Der Chefermittler stapfte die paar Stufen zu der halb offen stehenden Schiebetür hinauf. »Ich glaub nicht, dass da jemand drin ist«, murmelte er. Linkohr und Kerstin sahen sich an.
Häberle zog die schwere Schiebetür, ohne den Handgriff zu benutzen, zur Gänze auf und richtete den Strahl seiner Lampe in den Innenraum. Unterdessen, so nahm Linkohr im Augenwinkel wahr, hatten die beiden Männer im Büro gegenüber die Arbeit am
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