Blutsauger
Häberle ein und sah die junge Frau aufmunternd an.
»Es war nur eine Beobachtung am Rande …«
In diesem Augenblick erschien ein Kollege an der offenen Tür, der in Begleitung von Humstett war. Häberle stand auf, begrüßte ihn mit Handschlag, verwies auf Linkohr und Kerstin, die beide vergangene Nacht dabei gewesen waren, und bot ihm einen Platz an. Die anderen verließen, wie besprochen, den Raum.
»Super pünktlich«, lobte Häberle. »Kaffee?«
Humstett lehnte dankend ab. »Ich hoffe nicht, dass es lange dauert.«
»Das kommt drauf an, was Sie uns zu berichten haben.«
»Ist das jetzt ein Verhör oder was?«
»Sie sind Zeuge – wie ich Ihnen gestern bereits gesagt habe. Natürlich brauchen Sie auf Fragen, mit denen Sie sich selbst belasten würden, nicht zu antworten. Sie können natürlich auch einen Anwalt hinzuziehen.«
»Das wird nicht nötig sein.« Humstett knöpfte seine Jacke auf und zog den Reißverschluss seines Pullovers nach unten.
Der Mann wirkte sportlich, dachte Häberle. Er schätzte ihn auf Mitte 40, doch das genaue Alter würde sich ohnehin aus den Personalien ergeben, die nachher aufgenommen werden mussten. »Sie sind Mediziner«, knüpfte Häberle an das Gespräch der vergangenen Nacht an.
»Doktor der Medizin, Fachrichtung innere Medizin, genauer gesagt. Mein Interessengebiet ist weniger die direkte Heilkunde, um es mal laienhaft verständlich auszudrücken, als vielmehr die wissenschaftliche Arbeit.«
»Und darin sind Sie freiberuflich tätig?«
»So kann man das sagen. Wenngleich sie als Einzelkämpfer natürlich keine Chance mehr haben, Neues zu entwickeln. Die Zeit der großen Entdecker ist vorbei. Heute brauchen sie teure Technologien und innovative Mitarbeiter, um Neuland betreten zu können. Ich sag immer: In den vergangenen 100 Jahren wurden die Grundmauern freigelegt – und nun sind wir dabei, in dem Gebäude der Wissenschaften eine Etage nach der anderen zu entdecken. Und je höher wir steigen, umso abenteuerlicher wird es – und umso größere Hilfsmittel brauchen wir, um uns dort zurechtzufinden, wo der Horizont immer weitere Aus- und Einblicke ermöglicht.«
»Ein schöner Vergleich«, lobte Häberle. »Wäre es für Sie nicht leichter, sich an einer Uni oder an einer wissenschaftlichen Einrichtung zu betätigen – wie etwa, äh …«, Häberle überlegte, »dem Fraunhofer Institut zum Beispiel?«
»Natürlich haben Sie recht, Herr Häberle. Aber sobald sie sich an irgendjemand binden, sind sie in dem, was sie entwickeln wollen, nicht mehr so frei, wie ich es sein kann.«
Häberle überlegte, ob er eine gewisse Bemerkung anbringen konnte, tat es dann doch: »Das heißt, Sie wollen sich selbst für das verantwortlich fühlen, was Sie machen.« Er war mit dieser sehr diplomatischen Formulierung zufrieden.
»Ich bin sozusagen nur meinem eigenen Gewissen verpflichtet – und in gewisser Weise natürlich auch den Gesetzen.«
»Warum nur in gewisser Weise?«, insistierte der Chefermittler.
»Weil es heutzutage sehr stark auf den Standort ankommt, wo sie die Forschungsarbeit betreiben – also auf das jeweilige Land. Sie wissen selbst am besten, Herr Häberle, dass die Ansichten über Ethik sehr unterschiedlich sein können. Jeder Gesetzgeber reklamiert zwar für sich, den allein seligmachenden Weg gefunden zu haben – aber eben nur aus Sicht einer evolutionären Entwicklung des jeweiligen Volkes heraus. Wobei der Einfluss der Religionen natürlich eine große Rolle spielt.«
»Sie wollen damit sagen, dass sich die Forschung bisweilen mit der Gesetzgebung schwertut.«
»Was heißt schwertut? Sie sollten bedenken, dass sich Wissenschaftler nicht von lokalen Gesetzen beeinflussen lassen. Tun wir’s nicht, tun’s andere – ich weiß, das ist eine gefährliche, ja, eine teuflische Einstellung. Aber leider Gottes sind die Menschen so. Sie haben die Atombombe entwickelt – und wir alle wissen, dass man damit den Planeten ruinieren könnte. Und trotzdem wird daran weitergebastelt. Aus Angst, der andere könnte immer den einen entscheidenden Schritt schneller sein als man selbst. Nein, mit Gesetzen, Herr Häberle, werden Sie dem nicht Einhalt gebieten können.«
Häberle stimmte ihm insgeheim zu. Leider hatte die globale Intelligenz der Menschheit nicht mit den Möglichkeiten der Technik Schritt gehalten. Und alles deutete darauf hin, dass die Schere noch weiter auseinanderklaffte: Hier die Kleingeister in ihren Nationalstaaten, dort eine Technik und
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