Blutsauger
dass sie den Motor abgewürgt hatte. Sie drehte den Zündschlüssel und wollte starten, da wurde der Lichtschein eines der Scheinwerfer kurz unterbrochen, die auf sie gerichtet waren. Kerstin hielt inne, versuchte, die Situation aufzunehmen und gleichzeitig den Motor anzulassen. Doch dann sah sie den Mann, der im Vorbeigehen einen Schatten geworfen hatte – ein Mann, der vor ihrem Wagen herum zur Fahrertür kam.
Kerstin hatte inzwischen den Motor gestartet – aber einfach flüchten, nein, das wollte sie nicht. Sie war Kriminalistin. Da gab es Schlimmeres, als eine Zufallsbegegnung bei einem landwirtschaftlichen Anwesen. Oberweckerstell ist schließlich nicht die Bronx, dachte sie.
55
Häberle hatte gleich nach der Pressekonferenz seine Ehefrau Susanne angerufen und sie ohne lange Vorrede auf seine morgige Dienstreise hingewiesen. Der gebuchte Flug, so hatte ihm die Polizeidirektion Göppingen per E-Mail mitgeteilt, starte um 6 Uhr in Stuttgart. Mit TUI-Fly. Susanne verschlug es die Sprache, allerdings war sie es in den langen Ehejahren gewohnt, dass August kurzfristig eine Ermittlungsreise unternehmen musste. Als er noch Sonderermittler in Stuttgart gewesen war, kam dies drei- bis viermal im Jahr vor. Mittlerweile, bei der Polizeidirektion Göppingen, beschränkte sich dies auf maximal einmal pro Jahr.
Sie versprach, ihm den kleinsten Koffer zu packen, den sie hatten. Häberle hasste es, mit großem Gepäck zu reisen. Wenn er zwei oder drei Tage unterwegs war, reichten ihm frische Unterwäsche und zwei Hemden. Alles andere trug er ohnehin bei sich.
Obwohl er dringend Schlaf nötig gehabt hätte, wollte er an diesem Abend noch mit Stuhler und Moschin sprechen. Beinahe wäre dies an Stuhlers permanenter Zeitnot gescheitert. Doch der Kollege, der das Gespräch telefonisch vereinbaren musste, hatte den Chefarzt von der Dringlichkeit überzeugt und letztlich auch Moschin dazu bewegen können, nach dem Feierabend auf Häberle zu warten.
Der Chefermittler schüttete eine halbe Tasse starken Kaffee in sich hinein und wollte sich gerade erheben, als ein Telefongespräch zu ihm durchgestellt wurde. Er meldete sich knapp und bekam von der Dame an der Zentrale zu hören, dass ihn eine Frau namens Lena Fallheimer sprechen wolle.
Häberle ließ sich wieder langsam in seinen Schreibtischsessel sinken und griff instinktiv nach einem Kugelschreiber, um sofort mitschreiben zu können. Nach zwei Klicks in der Leitung hörte er die Stimme einer jungen Frau. »Ich bin Lena Fallheimer, entschuldigen Sie die Störung.«
»Sie stören überhaupt nicht«, blieb Häberle ruhig, obwohl ihn allein schon der Name elektrisierte. Seit Tagen hatten sie vergeblich versucht, Fallheimers Tochter ausfindig zu machen. »Es freut mich, dass Sie anrufen …« sagte er, um sogleich eingestehen zu müssen, dass diese Formulierung angesichts des Todes ihres Vaters nicht unbedingt passend erschien. »Auch wenn es wenig Anlass zur Freude gibt«, schob er deshalb nach und senkte seine Stimme.
»Gut, dass ich Sie erreiche«, kam es zurück. »Sie wissen wahrscheinlich, was geschehen ist.«
»Es ist viel geschehen, Frau Fallheimer«, gab sich Häberle mehrdeutig. »Sowohl hier bei uns als auch auf Gran Canaria, wo Sie sich wohl aufhalten, wenn ich richtig informiert bin.«
»Ja, ja. Stimmt. Sagt Ihnen der Name Elmar Brugger etwas?«
»Und ob mir der etwas sagt.«
»Er ist tot.«
»Ist bekannt. Darf ich fragen, in welcher Beziehung Sie zu Herrn Brugger standen?« Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, hielt er sie für sinnlos. Warum sollte er Fragen stellen, wenn Lena offensichtlich ein Anliegen hatte?
»Herr Brugger war ein Kollege von meinem Vater. Und weil ich in Spanien studiere, da hat mein Vater gemeint, ich könnt ihn ja mal besuchen, wenn er hier ist. Denn da gibt es noch jemanden …«
Häberle spürte, dass sie etwas loswerden musste. Er schielte auf seine Armbanduhr. Viel Zeit hatte er nicht. Den Termin mit Stuhler und Moschin durfte er unter keinen Umständen platzen lassen. In 15 Minuten musste er in der Klinik sein.
»Es gibt noch jemanden?«, bohrte er nach.
»Ja. Harald Maronn«, sagte die Frauenstimme zaghaft.
Häberle schrieb den Namen auf ein Blatt Papier. Maronn. Das war der, den Humstett als Chef bezeichnet hatte.
»Sagt Ihnen das etwas?«, fragte Lena.
»Ja, natürlich. Maronn«, bestätigte der Ermittler. »Aber was wollen Sie damit andeuten?« Er konnte nicht mehr lange um das Thema rumreden.
»Es geht mir
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