Blutsauger
Braus leben konnten, waren vorbei. Eine Praxis zu übernehmen, sie womöglich auf den neuesten Stand bringen zu müssen, erschien Frenzel nach allem, was er von erfahrenen Ärzten an der Universität gehört hatte, unmöglich zu sein. Weder das lange Studium noch die Verantwortung, die man sich als Arzt auferlegte, wurden vom derzeitigen Honorarsystem berücksichtigt.
Frenzel verfolgte abwesend die Bewegungen eines schwarzen Käfers, der in einem der Glasbehälter über ein Stück Holz krabbelte. Die Geräusche der kleinen Klimaanlage vermischten sich in seinen Ohren zu einem gewissen Hintergrundrauschen, das aus den Tiefen des Weltalls zu ihm in den Keller herunterzudringen schien. Er war allein, durchzuckte es ihn plötzlich. Allein in dem großen Haus, das, gut zwei Kilometer vom nächsten Ort entfernt, frei in der Landschaft stand und durch die derzeitigen Umbaumaßnahmen mit Gerüsten versehen war.
Lena. Mit einem Schlag musste er an Lena denken. Sie hatte ihm nahegelegt, auf sich aufzupassen. Sie hatte die Bedrohung gespürt, ohne genau sagen zu können, von wem sie ausging. Von Wohnhaupt? Sein Pulsschlag beschleunigte sich weiter. War Wohnhaupt tatsächlich gegangen? Und wenn ja, hatte er sich davon überzeugt, dass sich im Laufe des Spätnachmittags niemand in das Haus eingeschlichen hatte?
Quatsch, beruhigte ihn die Vernunft. Niemand hatte vorhersehen können, dass du heut Abend allein hier sein würdest.
Aber, so trommelte die Angst, da draußen steht dein Auto, dein blauer Fiesta, der schon einmal eine Rolle gespielt hat. Auch wenn in dieser frühen Winternacht aus dem Gebäude kein Lichtschein nach draußen drang, so war das Auto verräterisch. Der Gedanke, im Laufe des Abends allein in die Finsternis hinausgehen zu müssen, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Es waren zwar nur ein paar Schritte von der Tür zu seinem Auto, doch würde die kurze Distanz ausreichen, ihm etwas anzutun.
Er beschloss deshalb, die Nacht im Haus zu verbringen. Dies wäre nicht das erste Mal. In den zurückliegenden Monaten hatte er öfter auf einer Couch übernachtet, wenn ihn ein biologisches Phänomen gefangen hielt und er in den frühen Morgenstunden keine Lust mehr verspürte, ins heimische Türkheim zurückzufahren.
Je länger er über die Ereignisse nachdachte, desto mehr wurde ihm bewusst, wie tief er mit ihnen in Verbindung stand. Hatte er Lenas Anruf gestern Nachmittag noch eher auf die leichte Schulter genommen, so wurde ihm erst jetzt die ganze Tragweite dieser gut gemeinten Warnungen bewusst. Die Unbeschwertheit seines Studentenlebens war mit einem Schlag verschwunden. Das alles war kein Spiel, sondern bitterer Ernst. Er ging zum nächsten Terrarium, in dem außer einer Grünpflanze nichts zu sehen war. Die Insekten hatten sich in ihre Verstecke zurückgezogen.
Du bist ein Störfaktor, sagte ihm sein Innerstes. Ein Störfaktor, den sie beseitigen wollen. Ein Fehler im System. Einer, der zu viel weiß. Sie wollen dir mit dem verdächtigen Katzenkostüm alle Taten unterjubeln und dich dann ebenfalls beseitigen. Sie haben gar keine andere Wahl.
Beseitigen? Frenzel erschrak über diesen Gedanken. Wenn dies so war, dann konnten es nur Personen sein, denen er bisher vertraute. Wie in einem viel zu schnell laufenden Film flitzten die Porträts von Ärzten und Krankenschwestern an ihm vorbei. Fallheimer, Brugger, Stuhler, Moschin, Salbaisi. Die vielen netten Mädels, die er kennengelernt hatte. Oder Humstett, den leicht verschrobenen Wissenschaftler. Wild durcheinander tauchten sie in seinen Gedanken auf. Dazwischen immer wieder der sympathische Fallheimer, den er bereits vor sechs Jahren bei einem medizinischen Symposium getroffen hatte, wo er, gerade das Abitur in der Tasche, gewesen war, um sich über die Zukunftsperspektiven von Ärzten zu informieren. Fallheimer war so etwas wie sein Ziehvater geworden. Aus der reinen Bekanntschaft hatte sich eine Freundschaft entwickelt; sogar so weit, dass sie ihn, als er gerade das dritte Semester hinter sich gebracht hatte, als Fahrer eines Kleinbusses mit in den Skiurlaub genommen hatten. All dies jagte in Sekundenschnelle durch sein Gehirn. Und manche Bemerkung, manches Gespräch, dem er beigewohnt hatte, erschien ihm auf einmal in einem anderen Licht. Sie hatten ihn, den jungen Medizinstudenten, schon damals auf seine ärztliche Schweigepflicht eingeschworen – und es war für ihn schmeichelhaft gewesen, in diesem erlauchten Kreis dabei sein zu dürfen, der ihm
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